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100!

Einmal musste er kommen, dieser Moment, dieser Pass, dieser Augenblick, umso mehr es die letzten Tage und Wochen doch auch einige eher bittere, strenge, harte und verzweifelte Momente gab, in denen ich dachte, wir schaffen das nie, es passiert nie.

Heute aber ist es geschehen; wir haben die quasi selbstkonstruierte und -gebaute Schallmauer durchbrochen, indem wir unseren hundertsten Pass überquerten. Und weil’s so schön war, grad noch zwei mehr.

„Jaja…“, höhre ich Sie wieder hüsteln, räuspern, anmerken, „… euer selbstgewählter Projekttitel war ja schliesslich auch 101col+; da müsst ihr euch jetzt nicht so pathetisch aufführen, nur weil ihr’s geschafft habt.“

Stimmt ja alles, wir wissen, dass wir damit nicht die Welt retten konnten und auch nichts zu reklamieren haben. Trotzdem würde es mich z.B. insgeheim sowie persönlich interessieren, was eine nicht representative Umfrage auf der Strasse ergäbe, wenn gefragt würde, wer im letzten Monat schon 100 Pässe überquert habe. Mit dem Flugzeug? Dem Auto? Mit dem Töff? Zu Fuss? Oder eben mit dem Fahrrad? Sehen Sie? Jetzt werden Sie doch ruhiger…

Im Ernst. Für uns ist das auch nur eine Zahl. Und ob es am Schluss 99 oder 101 oder sonst wieviele sind, ist am Ende schlicht egal. Uns hat der Zielwert geholfen, das Projekt zu strukturieren, zu rhythmisieren und zu planen und ihm irgendwie einen guten, pfiffigen Claim zu geben. Nachher ging es vielmehr ums Gesamterlebnis, die Erfahrungen, die Einsichten und was wir alles zusammen erleben durften.

Also, jetzt schnell Korken knallen lassen, die Hürde ist übersprungen, geschafft – und v.a. alles, was damit zusammenhing feiern – und morgen wieder gewohnt neugierig, dankbar und zufrieden weiter im Text. Respektive auf dem Rad.

Die heutige Etappe war sozusagen das nette Vorspiel auf das, was uns die nächsten Tage erwarten wird. Vor und in den Pyrenäen werden noch einmal richtig viele Kilometer und Höhenmeter zu bewältigen sein. Andererseits haben wir die letzten Tage aber auch einen Biturboboost in unseren mittlerweile ganz passabel eingeübten Body’s gespürt. Also wenn nicht jetzt, wann dann?

Von Carcassonne zuerst in unserem Luxusliner an den Fuss dieser mächtigen Gebirgskette gefahren. Pedale eingeklinkt, Gring ache u seckle, äh strample, wie die gute Anita zu sagen pflegte.

Der Velotag in vielerlei Hinsicht durchzogen. Gestartet bei Hochnebeldecke und sogleich in den ersten Pass des Tages gestiegen, holprige unfreundliche Strasse, an vielen Stellen noch nass, es hat offenbar kurz vorher geregnet. Dafür, dass Norbert betonte, rückblickend müsste man dies euphemistisch nennen, „heute mache ich einen Wohlfühltag“, ziemlich forsch in die Pedale gehauen… Gion und ich kopfschüttelnd und fluchend hinterhergehächelt.

Vielleicht vom starken Schüttelbecherfeeling, welches dieser Abschnitt auf mich machte, prompt die (letzte) linke Linse verloren; sie war schlicht zerrissen. Ein paar Kilometer als einäugiger Bandit unterwegs, nachher eine rechte eingesetzt, gestaunt ob dem scharfen Bild und entschieden nach der Rückkehr wieder einmal zum Optiker zu gehen. Natürlich könnte man den Vorfall auch anders deuten: die linke Körperhälfte symbolisiert die weibliche Seite im Menschen. Aus einem mir nicht bekannten Grund habe ich seit Start weg im linken Auge immer mal wieder ein Unwohlbefinden, ein kratzigen Gefühl, das hier eben andeuten könnte, wie unausgeglichen meine weibliche, emotionale, introvertierte Sichtweise auf die Welt ist. Nun, gerade nach dem gestrigen Tag zweifle ich ob dieser Theorie und lasse den Esoteriker in mir schleifen… Der Begriff bedeutet übrigens in seiner griechischen Urform „Nur für den Eingeweihten verständlich, sichtbar“. Für mich ein wunderbarer Denkansatz – und stets eine tolle Ausrede – alles was ich nicht verstehe als esoterisch abzutun…

Beim 99. „col de la Croix des Morts“, wir lebten immer noch, vom genialen Adrien mit wirklich sehr passender Musik, „The Final Countown“ und von Weitem sichtbarem „99“ in pinkiger Schrift, sie war kreativ mit Post-it’s an den Bus geklebt, empfangen worden. Puh, das geht jetzt aber plötzlich sehr schnell, diese Annäherung an den Schwellenwert.

Jetzt noch durch Sonnenblumenfelder, zum ersten Mal gepflügte, sehr hellbraune Äcker, jetzt reisst die Hochnebeldecke, zwischendurch noch ein paar Tröpfli, explosionsartig auf, die Landschaft ebenfalls mirakulös verwandelt und transformiert, plötzlich einzelne Berge, die wie steile Kegel und Konusse auf Ebenen stehen, alle Nuancen von Grün, als wäre gestern der Frühlingsbeginn gewesen oder es sei gerade für heute noch einmal alles herausgeputzt worden, leichte angenehme Anstiege, unser hundertster Pass. Jetzt noch in dieses Tal hinein, 200 m raufkurbeln und da steht unser Bus mit ausgezogener Markise, Champagner und drei Pokalen, gesponsert von Daniel, Josiane, Christine und Charles. Es wird kurz gelacht, gespritzt, getrunken und abgeklatscht und schon sitzen wir wieder auf unseren selbsteingeheizten Feuerstühlen. Nummer 102 ist nett zu uns, nachher die rasante Abfahrt nach Ax-les-Thermes, sehr wohlig-kuschelig hat sich die schlagartig schnell ansteigende Temperatur mit der deutlich tieferen Feuchtigkeit auf der Haut angefühlt; das kriegen Sie nur auf dem Velo und von da an kennen Sie die Geschichte.

Nach Cappuccino in Ax-les-Thermes, weil das ein – zwar überraschend leckerer – Wiener Kaffee mit Schlagobers war, wurde uns einer geschenkt, jetzt im Tourbus nach Andorra.

Das Hotel „Andorra Park Hotel“ ein klotzig-protziger Kasten, hoch oben über der Ortschaft an der Bergkante klebend, erinnert vom ganzen Design und vom vordergründig luxuriösen Überflussschnickschnack ans Dolder in Zürich, für wenige Stunden unsere grosszügige Bleibe, die natürlich trotzt versteckter (Selbst-) Kritik für diesen halben Tag der pure Luxus, in der Definition von Überfluss, sind.

Quasi als Selbstbelohnung haben wir vor ein paar Tagen kurzfristig und ausserplanmässig entschieden, allseits unbekannterweise, uns diesen mondänen Ort reinzuzwitschern. Die Autonummerschilder hier sind, muss man neidlos sagen, echt cool!

Jetzt wird geduscht, ab 18:00 Uhr machen wir diese Hauptstadt unsicher, Apéro, Dinner, Heiaheia; morgen wieder courant normal.

Es war super mit euch Jungs; wir sollten wirklich langsam jede Sekunde geniessen. Auch die paar schwierigen…