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Nein, unser zweitletzter Tagesetappentitel ist nicht ein Emoji, das Sie noch nicht kennen… Sondern hier einmal eher mathematisch zu verstehen; „Klammer – fast – geschlossen“.

Die letzten Tage auf dem Rad noch einmal viel über die Bedeutung, den tieferen Sinn und den individuellen Stellenwert unseres Trips nachgedacht. Waren es einfach ziemlich aktive Aktivferien? Ein sportliches Trainingslager? Eine kurz vor Pensionierung nötige Vitalitätsbeweisaktion? Un tour d’Europe topografique? Ein Meditationsseminar mit viel Einkehr? Eine brutal chauvinistische Makernummer? Die sensible Suche nach sich selbst? Ein Präburnoutberufsminisabbatical? Der Versuch sich selbst zu übertreffen? Eine Flucht vor dem Alltag? Die Pilgerreise der besonderen Art? Eine Pause von der Familie?

Vielleicht von alle dem etwas und sicher für jeden von uns wieder etwas anderes mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten.

Die Bedeutung für mich persönlich hat sich erst im Laufe der Zeit, im Laufe der Kilometer, im Laufe(n) des Schweisses herauskristallisiert. Die ursprünglich dominante Faszination an der grossen sportlichen Leistung hat sich durch die Tage und über die Wochen transformiert in eine Entdeckungslust, in pure Lebensfreude über den Reichtum des Daseins und in eine Einkehr zu mir selber. Vier Wochen lang täglich soviel Zeit irgend einem spontan auftauchenden Gedanken oder auch einem bewusst vorgeknöpftem Thema ungestört nachgehen zu können, hatte ich seit Jahrzehnten nicht mehr. Diese innere Ruhe, auch ausgelöst durch den kontemplativen Charakter, den unsere Tage hatten, war ungemein angenehm und wohltuend. Das Gefühl dabei, zwar einen Plan zu haben, was unsere Etappenziele anging, gleichzeitig aber zu wissen, dass wir ohne weitere Konsequenzen, ganz nach Lust, Laune und Wetter, davon abweichen konnten, dieses Ergebnisoffene, was die Tage auszeichnete, hat sich wunderbar entspannt und entspannend angefühlt.

Zusammengefasst könnte man auch sagen, dass ich in diesen vier Wochen viel gelernt habe über die Orte, in denen wir waren, den Ortsbegriff hier allgemeiner verstanden. Die Orte waren Landschaften, Städtchen, Berggipfel, Geschichten, aber auch versteckte Winkel in mir drin, emotionale Zonen, die teilweise bereits mit spezifischen Themen besetzt waren und sich weiterentwicklen konnten, Inhalte, Gefühle, die sonst nicht ohne Weiteres zugänglich sind.

Die ständige, schier institutionalisierte körperliche Bewegung, die beim Velofahren ja ganz speziell mindestens zwei Komponenten hat, nämlich die Muskeln, die sich schon einmal für sich selbst bewegen, dieses rund-zyklische Bewegungsmuster dann aber dem Gesamtsystem Fahrrad-Fahrradfaher darüber hinaus einen starken Bewegungsvektor versetzt, all das häufig auch in einer Art Grenzdrehzahlbereich zwischen orange und rot, zusätzlich das sich Aussetzen unvorhersehbarer Umwelt- und Kontextfaktoren, die ziemlich viele Zeit, in der ich täglich auf mich selbst geworfen war (sh. „Geworfenheit“ von Heidegger), hat tief in mir drin etwas weich gemacht, zum Vorschein gebracht, sichtbar werden lassen, das sich sonst verborgen oder schwer erschliessbar verhält.

Maximal komprimiert kann ich konstatieren: Sehr viel gesehen „von der Welt“, und wohl dadurch intensivste emotionale, sehr persönliche, Momente erlebt.

Auch heute, es war vorerst unsere letzte(!) Ausfahrt in dieser Sache, wie schnell ist dieser Monat nur verstrichen, wieder dieses Mysterium gespürt. Zum einen ein sehr mattes, ja plattes, schweres und leeres Gesamtbefinden, und das beziehe ich ganz bewusst nicht nur auf den Körper, aber auch, z.B. beim Pinkeln im Pissoir mit beiden Füssen am Boden und zusätzlich abgestützten Kopf an der Wand, weil das statische System sonst unterdeterminiert wäre…, sondern auch auf die Seele und alles andere, was irgendwo dazwischen liegt, gerade so, dass ich gerne einfach noch etwas weiter geschlafen hätte nach dem Frühstück, zum anderen, diese bekanntlich zusammen mit meinen beiden Freunden selbst entworfene, tief in mir drin inkorporierte Agenda, deren Umsetzung keine Fragen offen liess, halt auch bei Nieselregen und toten Beinen sich auf den Sattel zu werfen.

Startschmunzler tief in mir drin: Die Erinnerung, dass ich etwa mit 16 Jahren einem bis heute guten Freund, hallo Balz, auf seine Frage, wie ich das schaffen würde, drei Mal die Woche schon um 06:00 Uhr mit dem ersten Training zu starten, etwas snobistisch antwortete: „Weisst Du, ich schöpfe halt aus der Überwindung von Unlust Lust.“

Tja, an dem hat sich wohl, wie Figura zeigt, bis heute nicht viel geändert, ging es mir durch den Kopf und so rollten wir die ersten paar Kilometer durch verschlafene Landwirtschaftssträsschen, bis es auf einem verträumten Pfad bergwärts ging. Das kleine Ding mit rund 600 Höhenmetern hatte es richtig dick hinter den Ohren, mit Stellen von 15% Steigung.

Nieselregen setzte ein, es hatte nicht grad 27° Grad, die Feuchte lag in schweren Dampfschwaden im Wald, presste auf unsere müden Körper und drückte auf die Stimmung. Immerhin war mein Humor noch da: „Die waren schwach wie eine Flasche leer!“ sprang mich das Zitat von Trappatoni an. Bei mir sind nur die Beine leer, dachte ich. Mein mit purem Wasser gefüllter Bidon war aber randvoll. Und „Ich habe fertig“ kann ich auch schon bald vermelden…

Die spontane Einsicht, dass unser Sabbatical es gut meinte mit uns. Kein Unfall, keine Panne, keine Krankheiten. Auch bedenkenswert, wie symmetrisch sich nun alles gibt. Unser erster Velotag war ein „Passsammler“ und verregnet. Unser letzter auch. Unser zweiter Tourtag führte bei schönem Wetter über TdF-Klassiker in die absolut maximal mögliche Höhenluft. Unser zweitletzter auch… Kleine Freuden des Architekten in mir, dem Symmetrien übrigens nicht per se gefallen.

Unser nächster Pass ging auf rund 1’500 m.ü.M. hinauf und war noch etwas garstiger zu uns. 17%! Eine Frechheit! Mich überfiel eine unbändige Lust auf Süsses. Als ich das nächste Mal Adrien mit Bus sah, plünderte ich die Schachtel mit Prussien’s, dieses ungesunde Blätterteiggebäck, das uns, danke liebe Henriette, eingepackt hatte und mirakulös bis zum jetzigen Zeitpunkt überlebte. Beim Passbild bettelten mich die beiden Freunde an; Kälte und tiefe Motivation führen zu erhöhtem Kalorienverbrauch. Kann das der neue Diättrend werden?

Um etwas für die Teamlaune zu tun, sperrte ich beim letzten Pass als Erstankömmling die Strecke mit einem wuchtigen Schlagbaum. Das hat mich die ganze Reise hindurch positiv verwundert; zu wieviel Schabernack wir immer aufgelegt waren. Grad auch, wenn einem nicht mehr dazu zu Mute war; Humor ist, wenn man trotzdem lacht.

Schwärme von Trekkingbiker*innen, allesamt mit schwerst – und iritierenderweise komplett identisch – beladen Maschinen, krochen, hechelten, schlichen, pendelten uns auf unserer Abfahrt wie ein endloser, nicht versiegender Tatzelwurm entgegen. Lemminghaft, wie mir schien, etwas leer im Blick, schon zu dieser Zeit (es war vor Mittag) paralysiert, alles Mitglieder einer Sekte? Pilgerweg der besonderen Art? Irgendwie auch schön, dachte ich, dass ich dieses Rätsel, diese Frage nach der Intention dieser Menschen, in diesem Leben nicht mehr auflösen werde.

Nach knapp drei Stunden war es für uns am 27. „Arbeitstag“ hier nach fünf oder sechs Pässen vorzeitig und nach dem 116. Passfoto Schluss. Klammer zu! Embarquer, wie wir in letzter Zeit zu sagen pflegten.

Jetzt sind wir dann, Pilot und Co-Pilot haben einmal mehr herausragende Arbeit geleistet, nach einer kurzen Sandwichpause gleich in San Sebastian, wo wir alle vier noch nie vorher waren. Die Guide-Michellin-Sterndichte ist nirgends auf der Welt höher. Mit Elena Arzak, der besten Köchin der Welt, von rund 280 Personen mit drei Sternen gibt es nur zwei Frauen, sehr seltsam(!), und sie ist eine davon, ihr Restaurant ist leider für Wochen ausgebucht, habe ich dank Sacha Menz wenigstens gemailt… So versuchen wir nun auf gut Glück, und das haben wir ja grundsätzlich, auf einem viel kürzeren Streifzug, als es unser letzter Monat war, aber nicht weniger intensiv, leidenschaftlich und hartnäckig, dem gastronomischen Weltruf von San Sebastian nachzugehen…

Morgen werden wir mit unserem Gefährt zurück in die Schweiz düsen, Distanz rund 1’200 Kilometer, Fahrzeitangabe Velo 70 Stunden, gut das Doppelte, aber mit dem 15-fachen an Höhe, haben wir in den Beinen. Mal kucken, ob uns diese Autofahrt noch einmal auf andere Weise zeigt, was wir hinter uns haben?