„An (solch) besonders schönen Tagen…
… ist der Himmel sozusagen wie aus blauem Porzellan.“ Dieser Satz, ich kenne ihn seit der Sekundarschule aus dem Deutschunterricht bei Herrn Marti, stammt aus dem Gedicht „Im Auto über Land“ von Erich Kästner. Wenn man Auto durch Velo ersetzt, ergäbe das für heute eine Tagesbeschreibung von unschlagbarer Relevanz und treffender Poesie.
Aber der Reihe nach. Gestern in Briançoner Restaurant Chalet trefflich leckeres Fleisch gegessen und heute bei frischen 7° Grad, aber wolkenlosem Himmel, die zwei programmierten Pässe in Angriff genommen. Zwei echte Klassiker, weltbekannt und in vielerlei Hinsicht interessant.
Die Strasse auf den col d’Izoard hinauf schlängelt sich anfangs lange Strecken durch dichten Mischwald, der hauptsächlich aus Buchen, Zedern oder Eichen, aber auch schon Fichten, Tannen und Pinien besteht. In höheren Lagen und bis 2’300 m.ü.M. sind es dann zunehmend Nadelwaldsegmente, die sich verweben mit den noch höher liegenden Matten, Auen und Wiesen oder auch Hochmooren. Letztere, geprägt durch relativ sauere und siliziumhaltige Böden, wiederum Mikrolebensraum für unzählige Distelarten, die auch jetzt im Herbst durch ihre intensiven Buntonfarben ein wunderschönes Bild ergeben.
Unsere Veloausfahrten machen so auch deutlich und im wörtlichen Sinn erfahrbar, dass sich hier die grössten zusammenhängenden Waldgebiete Europas befinden. Nicht ohne Weiteres zu erkennen sind die Besitzverhältnisse dieser eindrücklichen Lebensraumstrukturen; hier gibt es Privat-, Gemeinde-, Kommunal- und Staatswald zu bestaunen.
Unsere für heute höhenüberwindungsmässig zweite Herausforderung wurde uns geboten vom col d’Agnel, der uns für kurze Zeit Berührung mit dem Piemonteser Italien verschaffte. Ging es hier anfangs auf sympathisch gewellten Strässchen durch ein paar kleine Alpendörfchen hinauf, zeichnete sich dieser Pass durch ganz andere räumliche Qualitäten aus. Zum einen – und das ist raumstrukturell natürlich das Erstaunlichste – orientiert sich die Wegführung strikte entlang des Gewässers, hoch bis zur Wasserscheide. Die Passstrasse führt genau entlang des Baches, der das Tal entwässert. Diese sehr natürlich gewählte Linienführung, strahlte eine grosse Selbstverständlichkeit, Logik und Klarheit aus. In der Konsequenz sind so beinahe keine Eingriffe in das gewachsene Terrain nötig. Sprich keine Tunnels, keine Stützmauern, Abgrabungen oder Aufschüttungen. Es darf vermutet werden, dass hier besonders sensible Tiefbauingenieure und Strassenbauer am Werk waren. Oder einfach intelligente Bauersleute. Etwas, das beim Architekten in mir natürlich Bewunderung auslöst. Sowieso sei die Frage erlaubt, wieso bei solchen infrastrukturellen Bauvorhaben nicht auch Biologinnen, Geologen oder Landschaftsarchitektinnen mitgestalten sollten. Anyway, mich hat das beeindruckt.
Aufgefallen sind mir hier aber noch andere Eigenheiten: Auf dem mehrheitlich genoppelten Strassenbelag gab es z.B. kleine dunkelbraun-schwarze Käfer mit glänzendem Panzer, die alle strikte bergaufwärts marschierten. Keine Ahnung wieso, kann mir aber vorstellen, dass das mit genetisch bedingten Fortpflanzungsprogrammen zu tun haben könnte. Zudem eine Unmenge etwa 2-3 cm grosser kupferfarbener Heuschrecken, bei denen ich den Eindruck bekam, sie spielten Selbstmordkomando. Erst in letzter Sekunde sprangen sie jeweils mit einem Satz von sicher 2 m auf die Seite, um so dem bedrohlichen Veloreifen zu entkommen. Aufgrund der immer mal wieder für 10, 20 oder noch mehr Minuten stillen Situation, es gab sehr wenig motorisierten Verkehr, fielen mir die von weit und fern an die Ohren dringenden Bimbelklänge von Kuhglocken auf. Sie erzeugten einen sehr schönen und beruhigenden Klangteppich. Zwischendurch hörte man die lustigen Pfiffe von Murmeltieren, die zwei Bündner in der Truppe nennen Sie „Munggä“ und es ist auch klar, dass sie die Tierchen sogar sehen; ich als dumpfer Städter kann hier nur immer ganz doof fragen „wowo?“. Auch erstaunlich für Jahreszeit und Höhenlage: Stark behaarte Bergbienen, die einem um die Nase summen. Wahrscheinlich nisten die sich nächsten in ihrem Winterquartier ein.
Auf der Passhöhe die Nase in den Wind gestreckt, das obligate Pass(beweis)bild geknipst, den Blick nach Italien gewandt und dann die selbe Strecke sogleich wieder abwärts in Angriff genommen.
Natürlich bot der Tag noch viel mehr: Spannende Kurzdialoge mit Kollegen, die man überholt in den heftig-saftigen Anstiegen. Rassige Talabfahrten, auf denen einem auch die schweren Geräte (vulgo: Motorräder) nicht wegfahren. Bergluftatemzüge mit wechselnden, betörenden und waldigen Aromanoten und, ganz am Schluss der Anstrengung, die besten Sandwichs der Welt. Mit Baguette, Butter, Rohschinken und viel Liebe gemacht von unserem Super-Adrien. Merci!
Nun verstehen Sie vielleicht, weshalb ich Ihnen eine solche Reise wärmstens empfehlen kann? Man erlebt die Welt neu, kann den ganzen Tag staunen über die Schönheit, Raffinesse und Pracht unserer Natur, wird entdeckend, demütig, dankbar und glücklich.
Übrigens, falls Sie noch etwas Energie haben und wissen möchten, wie das bei Erich ausging: https://www.lyrikline.org/de/gedichte/im-auto-ueber-land-14381