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cucagna

Gut angefühlt hat es sich heute, wieder einmal in nach frischem Frühling riechender Sportwäsche fahren zu können; uns hat das nette Hotelpersonal gestern mit viel Sinn für den Begriff Dienstleistung in nur wenigen Stunden sackweise unsere ein bisschen streng riechenden Sportklamotten gewaschen.

Die Etappe vom geschichtsträchtigen Anduze aus, das als Wiege der Serikultur von Frankreich gilt und seit dem Ende des 13. Jhd. über viele Jahrhunderte eine grosse Bedeutung im Europäischen Seidenmarkt spielte, es hier dadurch viele spezielle Berufsansiedlungen gegeben hat, wie Seidenspinner, Strumpfwickler oder Hutmacher, führte uns, rein kartografisch betrachtet, auf einem schier wie vom Zirkel in die Landschaft gezogenen Kreissegment von Nordost nach Südwest, wo wir in Ganges landeten, das einen sehr ähnlichen geschichtlichen Hintergrund hat wie unser heutiger Startort. Dabei durften wir happige sowie deftige Höhenmeterbrocken und amusebouchartige Pässe erleben, insgesamt vier Stück.

„Aber schön der Reihe nach, wie in Paris“, wie mein Papa immer zu sagen pflegte.

Vom Hotel weg, gut gestärkt, wir haben alle verfügbaren weichen Eier und zusätzlich Rührei verdrückt, einen wunderhübschen, wirklich stark mäandrierenden, an einigen Stellen das typische Omega bildenden, Flusslauf hinauf gerollt und uns pläsierlich an den ziemlich flachen Steigungen, den bereits zur frühen Stunde frech kitzelnden Sonnenlichtstrahlen und dem unverwechselbaren Humor von Gion erquickt. Sie möchten eine Kostprobe? Hier kommt sie: Genau an dieser Stelle des heutigen Tages meinte er trocken: „Ich habe eben den Abzweiger gesehen zum Ort, an dem wir am 25. vorbeikommen werden; Peyrolles…“. Eine Millisekunde lang dachte ich noch; seltsam… Haben Sie ihn? Ecco. Für uns heute Witz des Tages!

Kurze Zeit später ging es via einer Brücke über den Fluss, um auf der anderen Seite auf einem untergeordneten Strässchen weiterzufahren; jetzt stieg es an. Aufgrund des speziell verzaubernden Charakters, der dieser Weg hatte, vergass man sehr schnell die Welt…

Die heutige Etappe für mich in vielerlei Hinsicht eine ganz besondere. Zum einen, was mich sehr freut, wahrnehmbare Steigerung des Wohlbefindens und der Fitness Norberts, der bereits gestern andeutungsweise seinen Fortschritt, der heute unübersehbar war, in Szene setzten konnte. Den Film, den ich von den beiden wilden Jungs im ersten, sehr engen Teil dieses Passaufstiegs vom eigenen Velo fahrenderweise gemacht habe, wird Ihnen, auf unserem Instagramaccount, Knopf oben rechts auf dem Hauptmenü unserer Homepage, sofort und ohne Worte veranschaulichen, wovon ich spreche; hohe Trittfrequenz am Berg und Power.

Interessant in diesem Zusammenhang der Fakt, dass sich die sportliche Weiterentwicklung trotzt täglich ziemlich ähnlicher Belastungsdauer und -intensität nicht linear, sondern saltatorisch, sich quasi überschlagend, in Sprüngen, zeigt.

Zum anderen nach der 15-km-Einrollrunde in eben dieses Passsträsschen seltener Intimität und Anmut eingebogen und relativ schnell, im Gegensatz zur vorherigen Formations(flug)fahrt, die wir die letzten Tage je länger desto öfter ausüben, es fühlt sich beinahe wie patrouille suisse an, gemerkt, wieder tout seul, dass ich von einer warmen, versöhnlichen und angenehmen Emotion geküsst werde, weil ich plötzlich Tränen in den Augen hatte, ja zweidrei Minuten lang glücklich heulte. Ergriffenheit. Dankbarkeit. Wohlgefühl. Jetztzeit. Staunen. Demut. Berührtheit. Moment. Stärke.

Hier ein paar Gedankenfetzen, die es mir im Aufstieg blitzlichtartig durch den Kopf spülte:

„Hilft eine solch kontemplative Fokusiertheit, eine Konzentration auf das räumlich Intime und Unmittelbare, dieses Gefühl der Verbundenheit mit dem, was im Leben um einen herum geschieht, dieses hohe Identifikationsmoment, diese kuschelige Geborgenheit, diese reine Form von Relevanz, am Ende ein besseres Leben zu führen? Und wenn dem so ist, wieso gibt es hier nicht mehr Menschen?“

Dieses unbekannte, bescheidene, feingliedrige und anmutig in die Topografie gefügte Strässchen warf mich in einer im positivsten Wortsinn heftigen, unangekündigten, gleichzeitig sehr angenehmen Weise, auf mich selbst zurück; von der kopfigen Konzentration, in die bauchige Kontemplation.

Grenzmomente und Grenzerfahrungen, schoss es mir durch den Kopf; ich versuche Ihnen zu explizieren, wieso.

Der Wegquerschnitt hier hat Zimmerdimensionen, was eine unglaubliche, dreidimensionale Geborgenheit erzeugt, zusammen mit den dominierenden Oberflächenstrukturen, den verschiedenen Düften, der Wärme der erdigen, natürlichen Farben, dem Licht- und Schattenspiel und den sanften Windgeräuschen.

Was später, bei räumlich leicht ausgeweiteten Wegdimensionen im Laubwald, wieder änderte. Die vielen kleinen, grünen und unbeweglichen Igelchen auf dem Boden erinnerten mich daran, dass schon bald wieder die Marron-Glacé-Zeit ansteht, die Frucht eine Pfundsenergiebombe, mit beinahe den gleichen physiologischen Eigenschaften wie die Kartoffel und übrigens über Jahrhunderte in vielen Gebieten von Mittel- und Südeuropa eines der Hauptnahrungsmittel.

Unvermittelt eine Felsformation im Weg stehend, die sich beim Näherkommen als eine Art Nadelöhr, eine Nanoschlucht, ein „durch diese hohle Gasse muss er kommen“ erweist, ein subtil und geschickt gemachter Durchgang in dieses Gestein gehauen und damit wie eine Pforte in eine neue Welt wirkend. Besser könnte man sich das nicht ausdenken, an diesem Alice-im-Wunderland-Tag in eine komplett andersartige Welt katapultiert zu werden: Leicht gewellt führte der Weg weiter, bis die Passanhöhe, die Tafel stand dieses Mal im Schutzbereich einer korbbogenförmigen Unterführung, auftauchte.

Es folgten rasante Abfahrt auf eng gekurvten Abschnitten; schön in den Pedalen stehen, weil damit mehr Gesamtlast abgefedert werden kann und damit die Bodenhaftung besser bleibt. Oberschenkel als Stossdämpfer, wie bei Mountainbikern. Oder Skifahrern; die bleiben auch lieber in Kontakt mit dem Schnee.

Dichteste Waldkörperstrukturen, die mich stark an Riesenbroccoligebirge erinnerten, grad so, dass es mich nicht gewundert hätte, es wäre irgendwo eine Diplodocumsaurierfamilie aufgetaucht, 30 m lange und über 15 t schwere Ureinwohner, die vor mehr als 150 Mio. Jahren einmal hier lebten.

Heute von einem Strassenbauer erfahren, dass nur wenige Minuten nach unserer Durchfahrt Teile der Strasse weggesprengt wurden. Auch in diesem Sinne: Viel Schwein gehabt heute, wäre uns doch einiges entgangen…

Eben, wie bei anderen Gelegenheiten auch schon, prompt einen col verpasst, respektive, nö nicht verpasst, dran vorbeigeschossen und es darum unterlassen, das obligate Foto zu schiessen.

Nun, wie Sie wissen, sind wir die letzten Tage einigermassen fleissig Fahrrad über Berge gefahren. Man könnte das als sportliche Aktivität bezeichnen. Wahrscheinlich war es das auch. Aber nicht nur. Es war auch ein hochintensiver Kulturlehrgang. Wir haben viel gegessen. Mindestens einige von uns viel geschlafen. Viel gelacht. Viel diskutiert und viel nachgedacht. Bei den zwei letzten Aktivitäten ging es auch oft um die Frage „Was erleben wir hier eigentlich? Was bedeutet diese Reise für uns? Was ist der tiefere Sinn des Lebens?“

Auch beschäftigt hat mich heute der Gedanke, besser die Frage, was von dem was ich hier immer wieder proklamiere, ja behaupte, dass beispielsweise das anregende Umfeld unsere Leistungsfähigkeit erhöht und umgekehrt bei guter Verfassung der Kontext hübscher erscheint und wahrgenommen wird; was von dem ist Ursache und was Wirkung? Oder ist es ein Verhältnis, wie das zwischen Sauerstoff und Ozon, man es gar nicht einfach so genau sagen kann, weil sich das eine Molekül ständig ins andere verwandelt und umgekehrt? RüR! Rätsel über Rätsel.

In diesem Sinne logisch, muss mit zwei Bündnern im Team, mit zweien, die zudem Romanisch aufgewachsen sind, mindestens ein Titel unserer Journalbeiträge im Romanischen Idiom vorkommen… Wissen Sie, was das Wort cucagna bedeutet? Schlaraffenland! Genau das hatten wir ganz speziell heute. Räumlich, kulinarisch, geografisch, sportlich, kulturell, sprachlich aber v.a. emotional. Norbert meinte nach dem ersten Anstieg nur: „Heute war es so schön, es hätte von mir aus noch ganz lange diesen paradiesischen Schlaraffenlandpass raufgehen können…“.