Der grosse Test
Erst jetzt, nach rund sechs Stunden auf dem Velo, wieder im komfortablen Bus, mit dem wir nun nach Montory, wo unser nächstes Hotel wartet, transferieren, mit der Einsicht, dass die heutige Etappe ALLES geboten hat, was Fahrrad fahren für uns so lohnend, essentiell und schön macht. Kein Wunder bei 100 km Distanz und über 3’100 Höhenmeter. So gesehen könnte unser heutiger Titel gut auch ein ganz anderer sein: Kaisertag, Höhenluft II, Königsetappe, River Deep – Mountain High, hören Sie sich die gute Tina auf unserem Instagrammkanal an oder auch ganz kurz Kür – Pflicht. Aber „der grosse Test“ passt, aus meiner unmassgeblichen Sicht, durchaus auch.
Angefangen hat der Spitzentag auf einem Parkplatz in Bagnères-de-Luchon. Die Leute hier sagen nur Luchon. Unvermittelt jagte hier die Strasse den ersten steilen Pass hoch. Räumliche Vielfalt, unterschiedlichste Kurvenradien, ständig wechselnde Vegetationen, intime Nischen, weite Sichtbezüge, Engnissempfindungen, Yin&Yang Freiheitsgefühle, Geschwindigkeit, Ruhe, Sonnenwärme. Yes!
Nach einer längeren Abfahrt tauchte der nächste Mocken auf. Ebenso schön, anmutig, elegant, weniger grosswelterlisch, wunderbar. Im kommoden Anfangsaufstiegstempo mit Gion über paranormale Phänomene, Déja-vu’s gesprochen. Mein Velo hat diese Tage ein paar Mal, heute auch schon, immer dann, wenn ich separiert unterwegs war, „etwas“ dermassen abgebremst, dass ich glaubte, mich ziehe ein Riese hinten am Sattelrohr und ich schier hinfiel. Heute war es in einem Aufstieg eine schlecht sichtbare Mulde im Strassenbelag, sie hatte genau die Geometrie, dass ein Velorad reinpasst. Genau in dem Moment, in dem auf den Kurbeln am wenigsten Druck anlag, war ich am tiefsten Punkt; deshalb dieser Beinahestopp. Die anderen Male hatte ich keine intellektuelle Erklärung parat…
Etwas später eine andere Wundererfahrung. Aber lassen Sie mich kurz ausholen: Ein paar Tage vorher hatte ich neben Norbert den Hang hochsäuselnd spontan eine neue Titelidee: „Von der temporal wechselnden Strategie über den Einsatz des Wiegetritts“ und auch gleich die vier Hauptkapitel im Kopf. Das krud Gedachte wollte ich kurz austesten und stieg aus dem Sattel. Gewohnheitsmässig wäre die Stelle viel zu steil gewesen für diese Fahrtechnik, es fühlte sich aber, zu meiner eigenen grossen Überraschung, bezaubernd, ja entzückend leichtfüssig an. So fuhr ich an sicher 9% steiler Stelle, vorne grosse Scheibe, hinten dritter Gang, wirklich unerklährlich locker den Hang hoch. Ich spürte dabei den hohen Muskeleinsatz am Oberkörper; bei jedem Tritt wirkte übers Kreuz abwechselnd die dem Bein gegenüberliegende Hand, am Lenker unter die Bremskonsole greifend, zog an dieser, leitete diese Kraft über Arme, Schultern, Rumpf und, der starken Torsion wegen hier speziell via Musculus Latissimus Dorsi, über die Beine an die Pedale und schliesslich dank der Coulombschen Reibung der Pneus auf der Strasse in Form von Fortbewegung weiter; c’est-ça!
Später, auf dem dritten grösseren Anstieg von heute, werden ich die neu gewonnene Leichtigkeit des Bergansteigens anwenden und ausprobieren; so sollten 1’000 Meter gehen…
Hinten im Rudel runter, so stark wie nie die letzten Wochen das Gefühl genossen, bei guter Sicht immer dann, wenn es ziemlich geradeaus über stark abfallende, aneinandergereihte Kamelbuckel ging, die Bremsen derart zu lösen, dass es sich anfühlte wie mit dem Fallschirm aus dem Flugzeug springen. Wohliges Empfinden der starken Erdanziehungskraft, die einem fühlbar heftig in die Tiefe reisst, bei gleichzeitigem Gefühl des totalen Weltvertrauens in die universalen Kräfte, sacken lassen, beschleunigen, sich gehen lassen, wunderschön. Der Belag, als wäre er erst grad vor ein paar Stunden eingebracht worden übrigens von einer derart feinen, hochverdichteten, babypopoglatten Struktur, dass sich einerseits die Abrollgeräusche der Pneus schier nicht mehr höhren liessen, unsere Rennboliden sicher 1-2% schneller als sonst unterwegs waren und ich ihn am liebsten, alle rund zwölf Kilometer, von oben bis unten mit der Zunge abgeschleckt hätte…
Jetzt dann, langsam leicht nervös, habe ich mich heute schon zu stark verausgabt, bald mein ganz persönlicher Ernstfall, quasi selbstverschuldet durch meine Art von „Ankündigungsjournalismus“, ein Begriff, der vor vielleicht gut zehn Jahren sehr in Mode war und häufige Verwendung fand…
Vielleicht können Sie sich an einen der früheren Berichte, wir fuhren gerade auf den Ventoux, erinnern. Ich lotete dort eine kurze Zeit lang die Möglichkeiten für die Endphase unserer Reise aus, ev. einen ganzen Kilometer Höhenunterschied unter einer Stunde zu schaffen. Die mittlerweile gut 100 Pässe, an denen wir die Bedingungen, die es für einen solchen Erfolg bräuchte, testen konnten, haben gewisse Erkenntnisse gebracht.
Was es dazu braucht sind gutes, trockenes, warmes und windarmes Wetter, ein möglichst fein strukturierter Strassenbelag, nicht zu viel Verkehr, die „richtige“ gleichmässig andauernde Steigung von 8-10% und gute Beine.
Heute, am Tag nach dem 9. Geburtstag unserer Tochter Meraviglia, den ich somit leider verpasste, nochmals auguri von hier aus mein süsser Schatz, wollte ich es probieren; probieren geht schliesslich über studieren. Der Begriff probieren scheint darum der richtige, weil ich bekanntlich nicht komplett erholt antreten konnte. Zum einen die paar Pässe der letzten vier Wochen in den Beinen, zum anderen, am Fusse des Tourmalet stehend, der heute schon der dritte im Bunde darstellte, bereits gut 1,8 Höhenkilometer und circa 70 km in den Mukis. Nun denn, fertig nach Ausreden gesucht. Was spielte das für eine Rolle, es ging ja eher um ein Spiel, ums Ausleben einer Neugierde, einen Spass, den Versuch, unter den halt jetzthierundheute gegebenen Voraussetzungen das Experiment zu wagen.
Achtung, fertig, los! Eine Stunde lang sich an einem weltbekannten Pass, sehr oft ist hier schon der Tross der Tour de France drüber, dieses Jahr auch, abstrampeln zu dürfen, ist doch schon für sich ein Privileg. Ich wusste zwar aufgrund der Steigungen der einzelnen Abschnitte, dass ich für den Erfolg etwa alle knapp sechs Minuten 100 Höhenmeter schaffen müsste und das ich umgekehrt eine durchschnittliche Geschwindigkeit von gut 12 km/h bräuchte, aber das sollte mich nicht kirre machen. Diese allgemeine Formel war auch ohne ständigen Zugriff auf einen Taschenrechner meinen sauerstoffunterversorgten Hirn während der Belastung zuzutrauen; das Produkt aus Steigungsprozent x Momentangeschwindigkeit musste, tout simple, einfach immer eine Zahl über 100 geben; voilà.
Gleichzeitig war mir aufgrund der ziemlich vielen sportmedizinischen Daten, die meine kleinen Helferchen die letzten Wochen gesammelt hatten, klar, dass ich es kaum schaffen würde, eine Stunde lang mit Puls um 150 zu drücken. Dies sollte, wenn schon, neben der zentralen Frage des eigenen Tempogefühls, mein Orientierungswert sein; der Puls, die Schlagfrequenz dieses unglaublich leistungsstarken Zweikammerpumpsystems. In einem viel allgemeineren Wortverständnis könnte das auch heissen, auf mein Herz hören; schönes Bild.
Die Strategie war es also, forciert sanft anzugehen, schauen wie sich’s anfühlt und dann zum Schlussspurt ansetzen. Wollen Sie wissen, wie’s wirklich war? Hier die Antwort:
Schon nach den ersten paar Minuten, die ich vielleicht etwas zu übermotiviert anging, sagte mein innerer Schweinehund zu mir, entschuldigen Sie bitte den Ausdruck, aber das war genau der Begriff, Arschloch. Während rund zehn weiteren Minuten schrie es in mir 10 x pro Sekunde „Stopp!“.
Wenn ich auf verschiedenen Monitoren nicht hätte erkennen können, dass ich mit 13-14 km/h unterwegs war, hätte ich wohl schon hier die Flinte ins Korn geworfen. Schnell wurde mir zudem klar, dass die noch zuvor gefasste Idee, einen grossen Teil auf der grossen Scheibe im Wiegentritt fahren zu können, hirnrissig, prahlerisch, arrogant und unrealistisch war.
Es tat weh am ganzen Körper, es brannte in den Beinmuskeln, die Lungen begannen zu pfeifen, der Puls war viel zu hoch, meine Brille war schwer beschlagen; ich musste sie von der Nase nehmen. Die Kilometertafeln am Wegrand erschienen wie in Zeitlupe aufzutauchen, alles schien wie verzögert, der gesamte Bewegungsablauf fühlte sich zäh, klebrig, hochviskos an.
Die Strasse wurde immer steiler, wie eine Wand stemmte sie sich mir entgegen. Ich wagte nicht, auf die laufende Uhr zu schauen, spürte aber aufgrund der bereits passierten Kilometerschilder, dass ich wohl bald die Hälfte dieser verfluchten Stunde hinter mir haben könnte. Weit oben sah ich einen Bus, der unserer hätte sein können. Tatsächlich, Adrien rief mir anspornend zu; ich vernahm es wie in einem engen Tunnel. Eine Schafherde unter der Galerie machte Ausweichmanöver nötig und dadurch den Kurs noch härter. Verschwommen tauchten Bergbahnanlagen und Häuser auf, mir kam Dali in den Unsinn, von dem wir letzthin in Andorra eine Uhrenskulptur stehen sahen. Der hat doch sicher auch Drogen gespickt, dieser Irre… Und dann noch wie im Zoo der Absurditäten wiederkäuende Alpakas, die so schauten, als würden sie sagen wollen „Was für ein Idiot.“ Alles surreal!
500 Höhenmeter sind geschafft, die Zeit lag bei 31:27 Minuten. Gar nicht so schlecht dachte es in mir; ganz auf den Pass wird es in einer Stunde so aber ohne deutliche Steigerung nicht reichen. Der Körper fühlte sich leer, überfodert, müde, blockiert, hart, schlapp an. Weiter, weiter, eine Stunde Belastung könnte gehen, flog es mir durch die Hirnareale. Gegenwind kam auf, auch das noch.
Der Gedanke, in einem gewissen Sinn jetzt dann einen Monat lang nichts anderes gemacht zu haben, ausser dafür zu sorgen, nun besser performen zu können, gab mir Mut. Jetzt könnten dann 45 Minuten um sein. Die Uhr nickte zustimmend und meinte, das schaffst Du bis zum Ende, egal, was für ein Ergebnis dabei herausschaut. Adrien überholte mich mit dem Bus und schrie mir noch einmal etwas zu; ich verstand es nicht mehr.
Noch acht Minuten bis zur Stunde. Attaque! Ich konnte nicht mehr forcieren. Der Countdown lief, 5, 4, 3, 2 Minuten; jetzt all in! Tick, Tick, Tick, die Uhr zählte zurück. Aus! Amen! Ende! Schluss!
Zeit stoppen, Höhenmeter checken. 927. Mein Herz explodierte. Mehr ging nicht. Aus den Pedalen klinken. Hinsetzen. Erst nach einer Weile realisierte ich, wo ich war. Der Atem war laut, der Herzschlag am Hals spürbar, ich habe mich schon sehr lange nicht mehr so ausgekotzt. Staubtrockener Mund.
Zurück und zu sich kommen, hinkauern, Panorama geniessen, zusammensacken, hinlegen, in die Sonne schmunzeln, danke sagen. Das war gut. Mehr ging heute nicht. Ich bin zufrieden mit mir.
Etwas später ein sehr unsexy gekleideter Kollege, unvorteilhaft darum, weil er a) lange Hosen mit den üblichen Hosenträgern trägt, b) darüber eine offen getragene Velojacke und c) darunter sein schwabbliger, weisser und stark behaarter Bauch zur Schau trägt, ich noch kurz hoffend, dass der nix von mir will, etwas seltsam, genau bei mir, ein paar hundert Meter unter dem Pass hält, einen seiner Bidon in den Bergbach hält und daraus dann sicher einen Liter Wasser, Spuren von Kuhpisse und Murmeligagga inklusive, herunter leert. Getan, salu und weg war er wieder.
Etwas nachher Gion an mir vorbei, naja, was war das wieder? Gefahren? Eher stehend halbtod an mir vorbeigeschlichen; sorry Gion… Ich wartete auf Norbert und schraubte mich zusammen mit ihm die letzten paar hundert Meter auf den Scheitel.
Heute gab es zur Feier des Tages ein Passbild mit Zigarre. Es zog. 1’400 Höhenmeter runtergebrettert. Ich nahm es gemütlich. Kein Risiko. Vor uns ein zweigeschossiger Kuhtransporter, so hoch, dass man in jeder Kurve fürchten musste, er kippe gleich. Das habe ich auch noch nie gesehen. Weiter unten auf einen Parkplatz. Verladen. Fahrt ins Hotel. Hintensitzend, wie Norbert, sofort eingeschlafen.
Dieser Tag hatte alles!