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Die Schöne und das Biest

Als wir uns heute nach vollbrachter Tat, intern reden wir sarkastisch gerne über den „Arbeitstag“ und dabei auch oft darüber, dass es sich nach gut vier Stunden lediglich um ein Halbtagespensum handelt, am Ortseingang zu dritt mit dem Rücken zur wohlig wärmenden Sonne Gewandt auf einer modernen Holzbank hinsetzten, um einfach diesen wahnsinnig schönen intimen Moment kurz gemeinsam zu geniessen und dann langsam unser obligates Debriefing vornahmen, staunten wir einmal mehr über die Rezensionsübereinstimmung unter uns drei Musketieren.

„Jaja“, höre ich Sie einwenden, „Ihr habt ja schliesslich auch die selbe Strecke erlebt“. Dem möchte ich nicht widersprechen, trifft das doch beinahe immer mindestens zu 99% zu, aber das ist eine andere Geschichte. Trotzdem erachten wir es nicht als selbstverständlich, wenn wir uns nach vollbrachter Tat von den selben Highlights erzählen, liegt die Schönheit doch im Auge des Betrachters, wie das Thukydides (455 -396 v. Chr.), griechischer Flottenkommandant im Pelopennesischen Krieg und Historiker, und nicht J. W. Goethe, wie das oft behauptet wird, als Erster in seinem bekannten Aphorismus schon festhielt und das eben anzeigt, wie individuell unsere Wahrnehmungen funktionieren.

Anders gesagt spielt es bei der Betrachtung einer Sache natürlich eine Rolle, wie und mit welchen Hintergrund, mit welcher Kompetenz, in welchem geistigen Zustand, mit welcher Erfahrung, in was für einer körperlichen Verassung oder mit welcher Prägung man etwas anschaut. In unserem Fall kann also nicht zwingend davon ausgegangen werden, dass ein Vermögensverwalter, ein Banker und ein Architekt auf ähnliche Weise kucken, wahrnehmen, auffassen und darüber erzählen.

Nun gut, heute waren wir uns auf dem Bänkli hockend ziemlich einig darüber, eine abwechslungsreiche, immer wieder überraschende, szenografisch unharmonische, insgesamt schwer zugängliche Etappe erfahrend erlebt zu haben, oder wie Gion es ausdrückte „Wie Puzzlesteine, die nicht richtig zusammenpassen“. Etwas später, und diese Aussage hat es heute, weil sie den Tag perfekt zusammenfasst, zur Headline geschafft, meinte Norbert, „wie die Schöne und das Biest“.

Aber der Reihe nach. Gestern Abend noch haben wir uns, in einem gewissen Sinn virtuell, sehr gerne vom Geburtstagskind Sabrina zum Nachtessen einladen lassen. Merci ma chère! Unser Fahrer Adrien musste leider im Hotel bleiben, da er seit Tagen an einer Erkältung herumlaboriert und es vorzog, einmal ausgiebig zu schlafen. Uns dreien hat das Mahl geschmeckt; viel Salat, viel Pizza, viel Protein und einen leckeren Wein aus dem umliegenden Terroir.

Die heutige Etappe, welche uns bei trockenem Wetter von Digne-les-Bains über drei Pässe nach Barcelonette führen sollte, starten wir innerhalb eines Kontextes, für den ich als Städteplaner keine weitere Referenz kenne: inmitten eines Friedhofs, genauer gesagt auf der Hauptstrasse, di den Friedhof durchschnitt.

Relativ gemütlich ansteigend, führte diese Hauptstrasse auf einer für meinen Geschmack, verglichen mit sehr vielen der vergangenen Tage, wieder einmal viel Verkehr, auch Schwerverkehr, führenden, aus dem nicht so schmucken Ort hinaus.

Wie von gekonnter Hand und schier etwas frivol-erotisiert hindrapierte sanfte Hügel liessen die Erinnerung zu, dass das Leben auch noch Anderes zu bieten hätte, als Velosport. Dem Auge hat’s gefallen, der Laune tat’s keinen Abbruch… Interessant der abrupte Wechsel in schroffe Schieferlandschaften. Textur, Glanz, Formensprache, Figürlichkeit, erinnerten mich spontan an eine zweitägige Begegnung mit H.R. Giger. In seinen geheimnisvoll aneinandergefügten Reihenhäusern in Zürich war die Stimmung, das Ambiente und seine allgegenwärtigen Alienfiguren ähnlich dem eben Gesehenen.

Das anfänglich vielversprechende Spätherbstwetter zeigte plötzlich Krallen, ein bissig frischer Wind blies uns entgegen, die allmählich abtrocknenden Strassen waren schlagartig wieder nass. So nass, dass das Wasser radial-zentrifugal nach oben, und an die Po’s, spritzte.

Die nächste Rampe führte in den Wald und wurde heftig steiler. 8%, 9%,… 12%. Uns kreuzte eine Horde Biker in langen Hosen und Windjacken, Gesichter hinter Halskrausen versteckt. Sie wirkten auf ihrer verhaltenen Bergabfahrt etwas saft- und kraftlos sowie motivationsschwach; waren sie auf der Flucht…?

Der Col du Labouret war heute unser Biest. Die sehr frischen Temperaturen zwangen uns oben angekommen zur Umkleide.

Nach einer sehr kurzen Abfahrt wieder ein Übergang in eine flache Bergauframpe; es fühlte sich gut an, bei ein paar Steigungsprozenten das System auf über 25 km/h halten zu können. Zweiter und dritter Pass, seltsame voralpine Baustrukturen mit sicher 40-50 Jahren auf dem Buckel, etwas Ratlosigkeit auslösend. Hier unvermittelt grauer Schiefer, der sich zur rechten Seite gigantisch auftürmte. Die Trassen breiter, tangential grössere Bergketten bergabführend. Wie aus dem Nichts liebliche Weitsichten in eine neue Art von Welt, putzig, zugänglich, Postkartenidylle mit knallhellblauen Stauseen imposanten Ausmasses. Fotopause. Bei erneutem Sonnenschein und vielleicht 10° mehr, weiter auf der Rotzgenusstrecke, auf der wir 8 Kilometer lang nie unter 50 km/h drauf hatten; Supersatisfactionfeeling!

Noch rund 30 km an unseren Zielort; wir entschieden, das zu „röllelen“. In meiner Erinnerung die Überzeugung, Barcelonette liege ca. 800 m.ü.M., den Fluss ab 1’100 m.ü.M. aufwärts(!) pedalierend. Darüber sinniert, wie sich die bald zu erwartende Wasserscheide topografisch präsentieren könnte. Zügig voran, noch 12 Kilometer, noch 5… Wann und wo kommt diese vermutete und erwartete Abfahrt? Ähnliche Bautypologien und -morphologien wie vor 1,5 Stunden. Was ich sah, konnte ich nicht zusammenbringen mit meiner Erinnerung an vor rund 10 Tagen. Es war eine Erinnerung an ein sehr schmuckes, gut belebtes, historisches Dorf, süsses Boutiqiehotel, viele Restaurants. Von hier ging’s in einen wundervollen Tag hinein über den „Räuber Hotzenplotz“. Halluziniere ich? Wieso wirkt diese Strassensiedlung so trist, ausgestorben, spröde?

Es war heute superspannend, den Zielort von der anderen Seite, von oben und nicht von unten, von Westen her und nicht von Osten, anzufahren. Ein bisschen war das Gefühl wie „nach Hause kommen“, auch wenn sich der Tag insgesamt etwas bockig präsentierte, uns den Zugang nicht so einfach gemacht hat wie bei anderen Etappen.

Gestaunt und gefreut haben wir uns zu dritt über die Feststellung, langsam in einen Stoffwechselmodus zu gelangen, bei dem ziemlich wenig Wasser absolut ausreicht, ja sogar als ideale Verpflegung erscheint, um so eine Strecke gesund, munter und glücklich zu beenden.

Jetzt um 17:38 Uhr spürt man hier den Herbst; am Sonnenstand, den Temperaturen und den leereren Gassen. Heute soll es wieder ins Restaurant Grange gehen, Sie wissen noch „Gazpacho“, in dem wir beim letzten Besuch so gut bedient waren.

Im Hotel eine schöne SMS eines offenbar regelmässigen Lesers bekommen und mich sehr darüber gefreut; herzlichen Dank lieber Urs. Wir delektieren uns übrigens immer über alle Arten von Reaktionen; Kritik, Rat, Frässpäckli, Zuspruch, Gegendarstellungen, Lob… 😉

P.S. Die Rennleitung hat heute, nach der gefühlt siebten Passüberquerung namens St. Jean, was selbstverständlich unseren heiligen Gion meint, eigenmächtig und nicht rekurrierbar entschieden, dass ab morgen der jeweilige Fahrer, dessen Namen gemeint ist (oder gemeint sein könnte), auf dem Berggipfel selber für Blanc de Blanc Jahrgangschampagner zu sorgen hat; vier Gläser, etwas Brioche und fois gras inklusive. Voilà!