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Draftexpressservice…

… oder von der wunderbaren Olfaktorik der Provence!

Vielleicht haben Sie in den letzten Tagen durch die Lektüre unserer Geschichten ein Gefühl davon bekommen, wie privilegiert ich mir vorkomme, Ihnen täglich einige Gedanken zumuten zu dürfen. Leider hat sich vorgestern bei mir der SFJ (Verband Schweizer Fachjournalisten) gemeldet, mit der Mahnung, ich würde die Mitgliedschaft verlieren, wenn ich die statutarisch vorgeschriebenen Ruhepausen nicht einhalten würde. Deshalb habe ich mich schweren Herzens dazu entschieden, den Freitag und den Samstag in einen einzigen Text zu giessen.

Nun gut: Die beiden Touretappen, wiederum mit viel Fingerspitzengefühl und hohem Bewusstsein für räumliche Rhythmik und Genusskultur von Norbert ausgeheckt, führten beide Male durch eine gut 100 km respektive 70 km lange Schlaufe mit rund 2’000, respektive 1’400 Höhenmetern, beide Male im Uhrzeigersinn gefahren, ins Hinterland von Nizza.

Das Duzend williger Fahrerinnen und Fahrer wurde in zwei Gruppen aufgeteilt, entsprechend der bisher in diesem Jahr gefahrenen Kilometer oder aber im Hinblick der vermuteten Ambitionen des Einzelnen. Irgend jemand verordnete mir die „Mitgliedschaft“ in der Renntruppe… Gegen diesen Begriff habe ich als früherer Wettkampfsportler grundsätzlich nichts einzuwenden, andererseits wurde schnell klar, dass ich hier mit 10-15 Jahren Abstand der älteste Radler im Umzug war. Die fünf wirklich neidlos knackigen Subtenbodymassindexboys, meint: alles Männer mit BMI (Body Mass Index) deutlich unter 10%!, zwei von ihnen in Hawaii schon in den schnellsten 100!, liessen vom ersten Pedaltritt an die austrainierten, mit Testosteron – und weiss der Geier sonst noch – voll gepumpten Muskelberge spiele, so, dass für mich sogleich alle offenen Fragen blitzschnell beantwortet waren.

Nach kurzem Einfädeln auf die Hauptstrasse nach Grasse, bolzte die Truppe auf der harmonisch geschlängelten, leicht abwärts geneigten Strasse die ersten Rund 20 Kilometer hinunter. Für mich als Schlusslicht dieses Schnellzugs aus mehreren Gründen ein Hochgenuss: Visuell eine Freude, an solch muskuläre, ästhetisch geformte Waden zu blicken, physikalisch eine Wonne, quasi im Sog des Windschattens fast wie gratis hinten „mitlutschen“ zu dürfen, auditiv ein Vergnügen, die Schaltkassetten schnurren hören zu können und olfaktorisch ein Feuerwerk, in Sekundenabständen in und durch gleichzeitig sehr intensiv duftende und ephemere Duftwolken gleiten zu dürfen.

Unübertrefflich intensive, richtig schwere, honigsüsse, schier klebrig wirkende Feigenaromen changierten mit dem irritierenden, betörenden, perfekt zwischen süss und sauer angesiedelten Duft nach Butternoten, welche die frisch gebackenen und aus dem Ofen genommenen Croissants umliegender Bäckereien verströmten. Nur einige Sekunden später gingen diese Noten über in den harzigen, nussigen und leicht wachsigen Geschmack der Pinienbäume, um sich sogleich wieder transformativ in kräuterig-mineralischen Aromen zu verlieren. Diese wellenförmig wahrgenommenen Bouquets, diese unübertreffbaren Wohlgeschmäcker, ja diese natürlichen Parfums, die sich sowohl in wilder, als auch schnell wechselnder Abfolge der Nase zum puren Genuss boten, kombiniert mit der Topografie und dem Speed auf zwei Rädern, war schon sehr berauschend.

Interessant aber verständlich, kam mir die 1985 publizierte Jahrhundertgeschichte des Patrick Süskind in den Sinn. Und auch gleich passend zum Thema die Tatsache, dass wir bald in Grasse, einer der wichtigen Parfumstädte Frankreichs, vorbeifahren würden.

Nicht vergessen gehen soll bei dieser ausgedehnten Schwärmerei für unsichtbare Phänomene das Handfeste und Sichtbare: Die landschaftliche Schönheit dieser beiden Touretappen, der Blick aufs Meer, unendlich harmonisch, anmutig und geschickt in die Topografie integrierte Dorfensembles oder auch plötzlich auftauchende Schmetterlingsschwärme, die oft nur gerade ein paar hundert Meter eines Tals bevölkerten. Die etwa zwei Zentimeter kleinen Falter wirkten in ihrer schier flimmrigen Masse wie die Flocken bei einem wilden Schneetreiben. Märchenhaft! Zweimal einen auf meiner Zunge erwischt. Der mandelartige, leicht bittere Geschmack, die Miniration an „natürlichen Aminosäuren“, taten meiner Laune und Leistungsfähigkeiten keinen Abbruch.

Am Samstag, nur rund 800 Meter vor der Rückkehr zum Hotel, ein weiteres spannendes Erlebnis: Eine kurze Unaufmerksamkeit von mir führte zu einem lauten knackigen Knall am Vorderrad. Kurze Zeit später war klar; ich bin wohl über einen Stein gefahren. Da ich TL-Reifen fahre, TL steht für tubeless, dieses karbonarmierte Hightechteil aber mit „Milch“, einer klebrigen Masse, gefüllt ist, hat man die Option, nach dem Einfangen des Plattfusses sofort mit einer Kartusche Luft nachzufüllen, was zu einem augenblicklichen Verschluss der defekten Stelle führt und einem die Weiterfahrt, mindestens ein kurzes flaches Stück weit, ermöglicht. Ohne die helfenden Hände einer sehr charmanten Frau hätte ich das mit dieser Luftpatrone nicht geschafft.

Persönliches Highlight dieser Tage übrigens etwas ganz anderes: Seit genau 20 Jahren wieder einmal mit einem lieben Freund aus der Kindheit zusammen die Kurbel gedreht. Danke Reto, es war ein spitzenklassiger Spass mit Dir!

P.S. Natürlich war meine Ausgangsausrede dafür, weshalb ich hier zwei Tage zusammenfasste, erstunken und erlogen. Heute würde man fakenews sagen. Der wahre Grund ist viel banaler. Durch die intensive und vielseitige Rahmenprogrammagenda, und natürlich diesen Zirkus(!), fehlte mir schlicht die Zeit…