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Hurra; ein Frei- am Sonntag!

Seit vielen Tagen beschäftigt mich die Frage, ob wohl das tägliche Velofahren oder die andauernde Schreiberei anstrengender ist… Die ehrliche Antwort: beides macht mir zurzeit sehr viel Spass und das andere hängt irgendwie von meiner Tagesform ab.

Da wir nun nach +/- 3 Wochen bereits 90 Pässe „abhaken“ konnten, es zudem heute Sonntag ist, wir des Weiteren ins beachtenswert interessante Städtchen Carcasonne weiterziehen werden, auf dessen Entdeckung ich mich sehr freue, die Cité de Carcassonne am rechten Ufer der Aude gehört seit 1997 zum Weltkulturerbe der UNESCO und ist mit 4 Millionen Besuchern pro Jahr die touristische Hauptattraktion der Region sowie eines der am häufigsten besuchten Reiseziele Frankreichs, zudem die mittelalterliche Festungsanlage von ihrer Grösse und ihrem Erhaltungszustand her einzigartig ist in Europa, habe ich mir heute per Selbstdekret frei gegeben von der ständigen Fab- und Formuliererei. Ich bitte Sie, geneigte Leserschaft, um Verständnis.

Trotzdem will und kann ich es mir nicht verkneifen, wir werden heute schliesslich auch eine Minietappe Rad fahren, Ihnen in aller Kürze die wichtigsten Reiserlebnisse widerzugeben.

Übrigens: Das Dinner gestern Abend vom Feinsten. Selber gemachter Raviolo mit Gemüsse-Krebsschwanzfüllung an einem sehr dichten, hocharomatischen Curryjus mit Pesto und rassigem Pimientoöl geschmacklich wunderschön ergänzt, farblich so arrangiert, dass der Teller auch ein Gemälde hätte sein können. Hier drückte wohl der versteckte Künstler durch beim Hausherrn. Zum Hauptgang ein perfekt gegartes Rindsfilet mit seinem Fonds und ein paar Flocken Maldonsalz, auf einer leicht süsslichen, ganz einfach gemachten Peperonata und zum Nachgang, das Tiramisu sah auch lecker aus, zweierlei Käse, einmal Brie und zum anderen eine Blauschimmelvariante. Alle drei Gänge mit lecker-knuspriger Baguette präsentiert, wie es sie nur in Frankreich gibt, serviert von einer sehr charmanten, zuvorkommenden und aufmerksamen Frau, ein wahres Gedicht. Das Mahl, so ungekünstelt und unangestrengt es daher kam, spitzenklassig und sehr beeindruckend. Für mich die überzeugendste Nummer der letzten drei Wochen. Mir fest vorgenommen, wenn ich wieder daheim bin, auch wieder mehr dieser einfachen, puristischen Form von Kulinarik zu frönen. Übrigens: http://www.demeuredeflore.com

Beim ganzen Aufenthalt in dieser zwar als eklektizistisch-manieristisch zu bezeichnenden Villa mit jeder Faser meines Körpers, aber wohl v.a. mit meiner Seele tief gespürt und stark empfunden, wie wichtig im Leben die Qualität der räumlichen Umgebung für das Wohlbefinden, die Beschwingtheit und auch die eigene Kreativität sind und wie unumstösslich mich alles im Zusammenhang mit Innenarchitektur und ihrer geschichtlichen Komponenten interessiert.

Nach dem gepflegten Frühstück um 8:00 Uhr, es wäre eigentlich so einfach herzustellen, wie Exempel zeigte, der gute Francesco hatte z.B. jedem von uns in einer eigenen Bodummaschine Kaffee hingestellt, entsprechend später eingesattelt; heute sind wir schier sonntagsbrunchmässig spät dran…

Gion, vielen Dank, Du hast hier eine sehr gute Hotelwahl getroffen!

Erichkästnerblauer Himmel, beschwingte Stimmung, tiefe Atemzüge in dieser noch etwas frischen nach Spätsommer duftenden Luft, es soll heute 28° Grad heiss werden; es fühlte sich schlicht phantastisch paradiesisch an. Ab die Post!

Sobald wir die Sache erlebt haben, melde ich mich hier wieder…

Das ist in der Zwischenzeit geschehen und der Tag war dermassen exzeptionell, dass ich mich als Erstes bei Ihnen entschuldigen muss: ich kann heute leider nicht nicht schreiben…

Die Kurzfassung wäre: Eine Tour wie aus einem Zuckerguss, verziehrt mit myofibrillischen Explosionen und einer nicht weniger heftigen emotionalen Implosion; schwer zu beschreiben.

Nach zehn Minuten Tourbus auf einer kleinen Ausbuchtung an einem französischen Sonntagmorgen den Untersatz getauscht. Schnell auf eine Strasse eingebogen, die sich in jederlei Hinsicht sehr geschmeidig, sanft, harmonisch und angenehm leicht anfühlte. Die Kombination des dichten Grüns, das unseren Bewegungsraum einfasste, mit der jetzt schon starken und hellen Sonneneinstrahlung, ergab einmalig sphärische Schattenspiele auf dem Fahrbelag und opalisierende Lichteffekte in der Luft; als könnte man die einzeln irisierenden Sonnenstrahlen sehen oder gar greifen. Der Physiker in mir suchte kurz nach Erklärungsmodellen für dieses Wahrnehmungsphänomen, sah diese klarer werden und liess sie sogleich wieder fallen: Für heute soll der reine Genuss und nicht die intellektuelle Theorie dahinter im Zentrum stehen.

Strassensäumende Buchenalleen, haufenweise Sujets zum küssen, immer wieder kleine agrokulturell genutzten Blätze, teilweise mitten im Wald, possierlichste Farnbuschwälder, wilder Weizen, der so nahe ans Strassenbankett wuchs, dass man ihn mit ausgestreckter Hand streicheln konnte, intensive Erinnerung an den oft gesehenen Film Gladiator, in dem eine solche Szene immer wieder symbolbeladen vorkommt.

Energieschübe, die sich auf dem Asphalt entluden, saltatorische Glücksgefühle aufgrund der Berührung und Berührtheit von Natur, Hochstimmung mit unserer Supertruppe, Pausenstops um noch näher an diese Empfindung, diese intensive Gefühlsregung, an diese Gastlichkeit der Landschaft heran zu kommen, Weltumarmwünsche, versöhnt mit dem gesamten Universum, genussvolle Souplesse, Glykogenrausch, der heute ein Glückogenrausch war, gleichzeitig bei sich und allem Anderen sein.

Heute etwas bluffig im rot gepunkteten Trikot unterwegs, das bei den Profis den Bergpreiskönig markiert und auszeichnet. Mit getauschten Farben, weisse Punkte auf rotem Grund, wäre ich ein Fliegenpilz, was zum einen rein aviatisch meinen heutigen Zustand gar nicht mal so schlecht beschriebe und zum anderen ebenfalls passen würde, kann man den Pilz doch je nach Alter essen, sich daran berauschen (nicht als Halluzinogen, sondern als Delirantium) oder daran sterben. Alter des Pilzes natürlich…

Übrigens, in der Etymologie wird beim Namen Fliegenpilz ein Zusammenhang mit Fliegen als altem Symbol für Wahnsinn vermutet; würde für mich ja auch ganz gut passen.

Einen zusätzlichen, unprogrammmässigen (ist wohl mein erstes Wort mit 3 „m“ hintereinander…) Pass mit schier 400 Höhenmetern hochgeschwebt, zufrieden auf der Passscheide gekehrt und wieder runter gerauscht; nachzusehen auf einem aus dem Bus gemachten Film. À propos. Wissen Sie, wie Sie eineindeutig feststellen können, ob Sie gutgelaunt und fit sind? Wenn Ihnen die Abfahrt der genau gleichen Strecke, die Sie vorher hinaufgeschraubt sind, länger vorkommt.

In dieser Art behaglich wohltuender Fortbewegung auf einer weiteren Abfahrt, die sich u.a. auszeichnete durch diese schnell wechselnden „Zebrastreifenmuster“ am Boden, schlagartig, wie vom Pfeil getroffen, wonnigst intensivste Heulattacke. Tränen der Dankbarkeit, Transformation, Glückseligkeit. In nur einer Sekunde begriffen, wie sich ein bald neun Jahre zurückliegendes, etwas heftigeres Ereignis in meinem persönlichen Curriculum Vitae, mit diesen Wochen unseres Transalp-Sabbaticals, dieser Art Pilgerreise ins Nirgendwo, diesem Trip zu uns selber, unerwartet und ex abrupto zusammenfügt und für mich dabei einen konstitutiv-integralen Sinn ergibt.

Froh, warteten meine Freunde etwas weiter unten. Ich konnte mich bei ihnen sacken lassen, hinkauern, losschluchzen, die intensive Bewegtheit, die vielseitig vibrierenden Emotionen ausleben, mich verb- und nonverbal mitteilen und allmählich wieder Fuss und Tritt(!), nicht Wiegetritt, hihi, fassen. Es fühlte sich sehr erhellend, versöhnlich und schön an. Ich bin sehr sehr dankbar für dieses ergreifende Erlebnis.

Es brauchte etwas Zeit, bis ich in der Lage war, weiter zu fahren. Bei der weiteren Abfahrt schon wieder das Schmunzelmonster in mir, mit der Erinnerung daran, dass ein besorgter französischer Velofahrer seine fürsorgliche Hilfe anbot. Zuerst meinte er, es handle sich um einen Unfall, nachher glaubte er, ich sei sehr erschöpft… Echt süss, nur stimmte beides sowas von nicht…

Wir kamen tiefer und tiefer. Zuerst über eine Schluchtstrasse mit holprigem Belag, nachher über immer stärker besiedeltes Gebiet, in eine Ebene riesigen Ausmasses, tiefer und tiefer, bis auf 120 m.ü.M. Die sensationellen Weitblicke, zusammen mit der schön flüssigen Geschwindigkeit, der leichte warme Wind von hinten, die viele Zeit, bildeten den idealen Rahmen, darüber nachzudenken, was Glück eigentlich genau ist. Ein Interview mit der Psychologin Pasqualina Perrig-Chiello kam mir in den Sinn, in dem sie sagte, dass es diese kurzen Momente sind, in denen man mit allem im Einklang ist, man Glück nicht planen könne und wenn man versuche, es festzuhalten, es schon wieder weg sei, im wissenschaftlichen Kontext das Glück aber nur ein Bestandteil des Wohlbefindens sei und Glück neben emotio­nalen Lustgefühlen auch die Lebens­zufriedenheit, also die Art, wie wir unsere Umstände auf kognitiver Ebene bewerten würden, beinhalte. Zum Wohlbefinden würden auch psychische Dimensionen wie Lebenssinn und die Fähigkeit, sich selber zu akzeptieren, gehören. Mit dieser schlüssigen, einleuchtenden und schönen Definition im Kopf stieg ich heute, echt glücklich, vom Rad.

Unsere nächste Bleibe war Carcassonne, wo wir in der mittelalterlichen Stadt ein Hotel bekamen. Nach Nachmittagskaffee, Check-in, Dusche und Erholung, in einem Restaurantgarten dinniert und dabei den irgendwie auch krassen – in seiner Form sehr besonderen – Tag noch einmal Revue passieren lassen. Die wohltuende Stadt, mit ihrer jahrhundertealten Ausstrahlung, dieser Frieden in den historischen Gemäuern, kombiniert mit anteilnehmenden Freunden, war wie Balsam auf Herz und Seele.

Dafür, dass ich heute Schreibpause machen wollte, ist ganz Vieles anders gekommen als geplant…