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Kurvenrausch

Sind wir ehrlich: Meistens versuchen wir uns das Leben so leicht wie nur möglich zu machen. Für die anstehende Ausfahrt wählen wir dann die Route, die über möglichst lange Geraden verfügt, auf denen wir ordentlich Tempo blochen können, um am Ende auf einen respektablen Schnitt zu kommen, den wir gerne weitererzählen. Auf Kurven, die uns als Hindernis in die Quere kommen könnten, verzichten wir gerne, da uns diese nur ausbremsen und den Stundenschnitt versauen.

Wie Sie wissen, heisst unser Projekttitel aber „101+ cols“; Durchschnittstempi kommen in unserem Denken nicht vor… Und wie Sie auch wissen, sind cols – auch wenn man aufgrund der harmlosen Phonetik des kurzen Wortes rasch glauben könnte, das sei etwas Lustiges, etwas zum Spielen oder Essen – Passübergänge, hyperboloide Paraboloide, Sattelflächen, vulgo Pässe. Und Pässe sind, wie wir im Fahrerteam mittlerweile absolut zweifelsfrei und eineindeutig bestätigen können, Anstiege auf Bergmassive, endlos steile Rampen ins Gebirge, Prallmauern der Muskelkraft, brutalste Topografien aufgrund von frühzeitlicher Plattentektonik.

Aber überall wo’s rauf geht unter die Himmelsdecke, verläuft die Strecke meistens nicht auf einer Geraden, sondern mittels Kurven. Und überall wo’s rauf geht, geht es irgendwann auch wieder runter. Von diesen Dingen soll heute hier die Rede sein.

Um das zu veranschaulichen war die heutige Etappe, welche uns bei zähem Hochnebelwetter, die Sonne lugte nur 2-3 mal ganz kurz hervor, von Barcelonette über fünf Pässe mit knapp 2k Höhenmetern und über rund 80 km wieder zurück nach Barcelonette führte, bestens geeignet.

Unmittelbar aus unserem Bus steigend, der Mitten in einer Haarnadelkurve oberhalb eines blau leuchtenden Stausees stand, ging es sogleich mit +/- 10 Steigungsprozenten los; quasi ein Kaltstart nach Mass. Hinten wieder runter, beim nächsten wieder rauf; ganz so, wir uns das langsam gewohnt sind. Beim 2. Pass, der grundsätzlich alle nötigen Kriterien dazu erfüllte, gab es leider weder Champagner, noch fois gras…

Heute war nicht nur ein Tag der Kurven, sondern auch der sehr unterschiedlichen Lienienführungen und v.a. Belagsbeschaffenheiten, Eine kurze Strecke lang ging es wie im Funbikepark zu und her; sehr enge Radien, die Kurvenflächen mit Schräglage ausgebildet, aneinander gereihte Kamelbuckel und dabei ständig die gesamten Gänge hoch- und wieder runter geschaltet. Das war ein Spass! Nino Schurter hätte hier seinen beliebten Trick mit dem angehobenen Hinterteil, des Bikes natürlich, an was haben Sie wieder gedacht?, gezeigt.

An einer Weggabelung befand sich ein Schild mit der Aufschrift „le col“. Wir machten uns schier ein wenig lustig über den sehr banalen und putzigen Namen und entschieden, dieses Pässchen noch kurz „einzupacken“. Norbert monierte „Fünf Kilometer relativ steil“, aber weil wir in solchen Situationen stets demokratisch entscheiden, nahmen wir das Teil in Angriff. Die erste Hälfte war zwar steil (10%), aber auf gutem Belag. Plötzlich tauchte eine kleine agrarische Ansiedelung auf, wunderhübsch, mit viel Liebe zum Detail heraus gepützelt, gerade so, als wäre Schneewitchen am Kochen und die vier(!) Zwerge bei der Arbeit. Sehr schnell war fertig pittoresk. Schlechter werdender Belag, Kies auf der Strasse, zunehmende Steilheit; in mehreren Stufen wurden diese Kriterien krasser. Dabei passierten mir zwei Phänomene zum ersten Mal während dieser Reise. Es hob mir vor lauter Anstieg schier das Vorderrad und hinten drehte ich aufgrund fehlender Traktion auf dem Kies durch. Auf dem Motorrad cooler Standard, hier gewöhnungsbedürftig. Oben auf dem Pass ein kleiner Schrottplatz und mangels weiterführender Strasse den Zwang zur Umkehr. Erst beim Runterfahren richtig gemerkt, das dieses Pässchen, sein Name ist St.Martin, das Extremste war, was wir bisher fuhren und man schon leicht deppert sein muss, wie der Viertel Wiener in mir so sagt, wenn man sich das antut.

Später fuhren wir kilometerlang einen sehr einsamen flachen Pass hoch auf einer Unterlage, gegen die jede Flickendecke langweilig ist. Ich fragte mich die ganze Zeit, ob das nun mehr Schlag oder Loch sei.

Kurz nachher speedete ich neben Gion inmitten eines landwirtschaftlichen Terrains auf einer guten Teerstrasse mit Längsrinnen, grad so, als wären wir zwei Carrerearennautos, die sich ein neckisches Rennen liefern.

Präambel Die sowohl physikalische als auch emotionale Vorbereitung auf die Passabfahrt geschieht jeweils im Aufstieg. Zum einen wird durch die Arbeit am System Mensch-Velo potentielle Energie – auch Lageenergie – aufgebaut, zum anderen verhilft das Erreichen der Passhöhe zur euphorischen Wahrnehmung von Schönheit, Frische, Klarheit oder Reinheit, bevor es dann, durch Rückumwandlung in kinetische Energie auf den Höllenritt gehen kann.

Bevor wir aber zum emotionalen Rausch kommen, noch ein paar grundsätzliche physikalisch-technische Informationen dazu, wie man eine Kurve fahren sollte. Es gibt dabei ein paar Ansätze, deren Befolgung zu mehr Sicherheit, höheren Tempi und intensiverem Spass führen.

Die Kurve kratzen Wenn es um die eigene Kurventechnik nicht zum Besten bestellt ist, dürfte einem das höchstwahrscheinlich bereits bewusst sein. Und das kann durchaus frustrierend sein. Bei der Fahrt in einer Gruppe mit der man konditionell gut mithalten kann, fällst man jedes Mal, wenn es in die nächste Kurve geht zurück. Danach kostet es stets eine zusätzliche Anstrengung, um die entstandene Lücken wieder zu schliessen und den Anschluss zu behalten.

Das Problem zu erkennen und sich vor Augen zu halten, dass man an der Kurventechnik wie an jeder anderen Fähigkeit beim Radfahren arbeiten kann, um sie zu verbessern, ist der erste Schritt. Das Ganze dann während der Fahrt umzusetzen, der zweite. Idealerweise sollte man anfangen an der Technik zu arbeiten, wenn man alleine unterwegs ist.

Hierbei ist man weniger durch die anderen Fahrer abgelenkt, muss sich nicht auf den Vordermann konzentrieren, kann sein eigenes Tempo machen und sich voll und ganz auf die persönliche Fahrtechnik konzentrieren. Wenn sich die Bewegungsabläufe etwas eingespielt haben, kann man anschliessend zuerst in kleineren Gruppen und dann wieder im kompletten Rudel auf Tour gehen.

Die Fahrposition bei Kurven Die richtige Kurventechnik erfordert etwas mehr an Kontrolle über das Rad, als es bei der Fahrt in der geraden Ebene der Fall ist. So soll die Fahrtrichtung mit Präzision geändert werden, ohne dass die Stabilität und Kontrolle leidet. Erreicht wird dies, indem man den Körper etwas weiter nach vorne über die Front des Bikes positioniert. Hiermit wird der Schwerpunkt etwas nach unten verlagert.

Der veränderte Schwerpunkt sorgt für verbesserte Lenkeigenschaften, während das Vorderrad satt auf dem Boden lastet. Die Hände greifen bei der Fahrt durch die Kurve leicht angewinkelt den Unterlenker und dienen somit als Dämpfer, die ohne Mühe Unebenheiten im Strassenbelag absorbieren.

Die Entspannung Wer noch nicht die optimale Kurventechnik gefunden hat, ist beim Fahren von Kurven oft ein wenig angespannt. Wie so oft im Sport, spielt auch hier der mentale Aspekt eine nicht unbedeutende Rolle. Angst ist beim Erlernen der richtigen Fahrtechnik nicht der richtige Berater und hat schon das eine oder andere Mal die besten Pläne zunichte gemacht. Geduld und Entspannung sind hier der Schlüssel zum Erfolg. Als erfolgversprechend können sich auch Rituale erweisen. Bei der Fahrt in die Kurve vergewissert man sich der richtigen Fahrposition, atmet tief ein und in der Kurve dann wieder aus.

Die Wahl der Ideallinie Den meisten von uns ist bewusst, dass wir, wenn wir es sportlich angehen wollen, eine Kurve schneiden müssen, statt einfach nur dem Strassenverlauf zu folgen. Meistens lässt es die Verkehrssituation allerdings nur zu, dieses Prinzip in eher moderater Ausführung bei angepasster Geschwindigkeit anzuwenden. Trotzdem lassen sich dabei die persönlichen Fähigkeiten verbessern, ohne ein erhöhtes Risiko einzugehen. Und wenn man dann einmal auf weniger befahrenen Straßen unterwegs ist, was auf unserer Tour häufig der Fall war, kann man die persönlichen Grenzen bei höherer Geschwindigkeit und aggressiveren Linien ausloten.

Die Annäherung an die Kurve Wenn man sich einer Kurve nähert, sollte man diese auf der Grundlage des Eintritt- sowie des Austrittpunkts (Scheitelpunkte) beurteilen. Hierbei sollte man die zu fahrende Linie und Geschwindigkeit in Betracht ziehen. Ein abruptes Einlenken sollte zugunsten eines geschmeidigen Einstiegs in die Kurve vermieden werden.

Die Geschwindigkeit sollte bereits vor der Fahrt in die Kurve an die jeweilige Situation, sprich Radius, Beschaffenheit des Strassenbelages und Witterung angepasst werden. Beim Einlenken und der Fahrt durch die Kurve werden die Bremshebel losgelassen. Wenn man zur besseren Kontrolle in der Unterlenkerposition fährt, ist man gleichzeitig in der besten Position, um mit den Bremsen lediglich leicht dosiert einzugreifen.

Optimalerweise gewöhnt man sich das Bremsen während der Fahrt durch die Kurve aber gar nicht erst an. Vor allem bei nasser Farbahn können die Reifen hierdurch leicht an Haftung verlieren, ins Rutschen kommen und man selbst die Kontrolle über das Rad verlieren.

Eine gute Idee ist es, vor der Fahrt in die Kurve ein oder zwei Gänge runter zu schalten. Da man nach der Kurve zwangsläufig etwas an Geschwindigkeit verloren haben wird, kann man anschliessend ohne Zeitverlust durch Schaltvorgänge beschleunigen, ohne in Gefahr zu geraten, den Anschluss an die anderen Fahrer aus der Gruppe zu verlieren.

Der Scheitelpunkt Wenn man den Scheitelpunkt der Kurve erreicht und durchquert, befindet sich die der Kurve abgewandte Kurbel in Sechs-Uhr-Stellung und damit die kurveninnere Kurbel in 12-Uhr-Stellung. Dadurch erreicht man möglichst viel Bodenfreiheit und läuft nicht Gefahr, mit dem Pedal am Boden zu schleifen. Hilfreich kann es zudem sein, die kurveninnere Schulter ein wenig einzusenken. Der Körper sollte mit dem Fahrrad eine Linie bilden und der Blick dabei auf den Ausgangspunkt fokussiert sein.

Der Kurvenausgang Wenn man aus der Kurve ausfährt und sich das Fahrrad aufzurichten beginnt, sollte man, sobald man dazu die Möglichkeit hat, in die Pedale treten. Wenn nötig kann man aus dem Sattel gehen und einen kurzen Sprint einlegen, um die verlorene Geschwindigkeit wieder gutzumachen. Wenn man vor der Kurve bereits wie zuvor erwähnt in den passenden Gang geschaltet hat, hat man es hierbei leichter.

Fahren in der Gruppe Bei der Fahrt in kleineren und später grösseren Gruppen, ist anfangs immer eine Hürde vorhanden, die Kurventechnik so einzusetzen, wie man sie bei der Fahrt alleine bereits angewendet hat. Essenziell ist bei der gemeinsamen Ausfahrt die Rücksichtnahme auf die anderen Mitfahrer. Als Gruppe geht man immer Kompromisse ein und fährt eine gemeinsame Linie.

Im Pulk sieht man eine kommende Kurve vielleicht gar nicht und kann sie mindestens nicht in der Weise beurteilen, wie dies bei der Solofahrt der Fall ist. Man muss Vertrauen in die Fahrer vor einem haben und die eigenen Entschlüsse anhand deren Reaktionen ziehen.

Auf eine Verlangsamung der Gruppe reagiert man am besten, auch wenn man eine potentielle sich anbahnende Kurve noch nicht im Sichtfeld hat, damit, in den Unterlenker zu gehen und ein oder zwei Gänge runter zu schalten. Gleichzeitig lässt man den Fahrern neben sich etwas mehr Raum und versucht die Position in der Gruppe zu halten.

Fazit Es lohnt sich, die eigene Kurventechnik während der nächsten Ausfahrten ein wenig zu analysieren. Als Ergebnis wird man entweder feststellen, dass man bereits die meisten der genannten Aspekte intuitiv, ohne allzu viel darüber nachzudenken richtig macht, oder aber wird man erkennen, dass die Kurventechnik die Ursache für gewisse Defizite ist. So oder so kann dies dabei helfen, den Fokus auf eine Steigerung der persönlichen Leistung zu setzen.

Übrigens, haben Sie’s auch gemerkt? Mit den fast gleichen Buchstaben, die es für „Pässe“ braucht, Sie müssen nur etwas lispeln wie Hausi Leutenegger, könnte man auch Spässe schreiben… Er ist übrigens auch derjenige, der in seinem unverwechselbaren Slang findet, man solle den Körper jeden Tag etwas plagen, sonst Plage einen irgendwann der Körper… Na dann!

Nebenbei: Zu Teilen in diesem Text hat mich ROADCYCLING.DE inspiriert.