„Ne vous inquiétez pas“
Es ist im Leben generell manchmal eine ganz gute Idee, die Sache rückwärts zu sehen, zu denken oder auch zu fahren. Genau das haben wir, nicht ganz freiwillig, heute gemacht. Aufgrund der Wetterprognosen tauschten wir die beiden letzten Tage, um nicht heute im Regen über das Windmonster zu müssen.
Nach üppigem Frühstück kurz nach Sault auf den Sattel geschmissen, um wieder gen Norden zu kurven. Das Tagesmotto hätte „+/- 1’000“ sein können, sollten wir uns doch ständig in dieser Höhenlage herum bewegen.
Der reelle Titel für diese Geschichte stammt übrigens vom lustigen Gion. Es war seine originelle Antwort auf meine gestrige Abendfrage per SMS, was wir morgen fahren würden. Und stellt wohl eine philosophische Lebenshilfe für sehr viele Situationen dar, auch wenn ich konstatieren darf, mich schon sehr lange Zeit dermassen keine Sorgen gemacht zu haben wie die letzten zwei Wochen. Trotzdem: Grazia fitg Gion.
Die heutige Geschichte ist schnell erzählt. Einerseits, weil ich grad jetzt, wo wir wieder im Bus sitzen für den Transfer, so ziemlich keine Lust und wenig Laune mehr habe mich mitzuteilen, andererseits gibt es heute aufgrund der mageren Ausbeute, die sich im Fangnetz der Erkenntnis verfangen hat, auch schier Nichts zu berichten.
Lassen Sie es mich bitte trotzdem in aller Knappheit versuchen.
Das heutige Hauptthema war Regen. Gestartet hat die Ausfahrt mit feinem Nieselregen. So fein, dass er uns fast gekitzelt hat im Gesicht; die Stimmung war da noch – einigermassen – heiter. Später ging das über in Bindfäden, wechslte immer mal wieder zu einer Art Sommergewitter, transformierte sich in einen Landregen, sublimierte zu sehr feuchtem Nebel, um dann irgendwann wieder von vorne zu beginnen; immer und immer wieder.
Wer bei Regen Fahrrad fährt weiss, dass dann das Wasser von überall her kommt. Vom Himmel, wie vom Boden, von vorne wie von hinten, von links wie von rechts, von aussen wie von innen. Es schlüpft, es drückt, ja es presst dabei an jede denkbare Stelle des Körpers. Auch an solche, von denen Sie nichts wissen möchten.
Am Anfang nimmt man das noch einigermassen entspannt, redet sich ein, eine Empfindung etablieren zu können wie im Gratishammam. Spätestens aber, wenn der Sand, den es vom Rad des Vordermannes in den offenen Mund gespritzt hat, zwischen den Zähnen zu knirschen beginnt, man auf den Abfahrten im Blindflug und auf rutschiger Unterlage am ganzen Körper zu zittern beginnt, die Hände zunehmend Probleme machen beim Bremsen, es einem bald die Haut löst vom Körper, endet der etwas krampfhaft herbeigeredete Spass; manchmal allmählich, manchmal abrupt. Heute war’s die zweite Sorte!
Die kurzen Pausen für die Gruppenbilder auf dem Pass, die schnellen Umziehintermezzos der Mitstreiter, eine Pinkelpause; all das geht einem viel zu lang, respektive fördert die weitere Unterkühlung und dämpft, ja drückt die schon nicht herausragende Stimmung zusätzlich in den Keller. Ein paar Mal bin ich heute den nächsten Pass nur darum wie gepickt raufgebrettert, weil ich wieder warm werden wollte.
Solche Ausfahrten wie heute, jeder ist mit sich selber beschäftigt, zu sehen gibt es aus mindestens zwei Gründen eh nix; a) die Brillen- oder Visierscheiben sind beschlagen und b) die Fernsicht beträgt 10 m, c) die eigene Neugier tendiert gegen Limes Null, versuche ich jeweils, mir selber die Vorteile der momenanen Situation, die ich sowieso nicht ändern kann, vor Augen zu führen. Sie waren heute:
Bei solchen Bedingungen muss man weniger trinken, weil die gesamte rund 1,8 m2 messende Hautoberfläche auch ohne zu schwitzen klatschnass ist. Die sogenannte Verdunstungswärme, die Energie, die es braucht, um Wasser (oder Schweiss, der 99% aus Wasser besteht) in Dampf zu aggregieren, kühlt den Körper viel unaufwendiger. Das Velo wird beinahe wie von selbst ziemlich sauber. Die später getrocknete Sportwäsche kann morgen noch einmal verwendet werden, ohne dass sie aufgrund des Odeurs, den Hintermann von der Felge spickt. Eine Dusche später im Hotel ist nicht mehr unabdingbar; abtrocknen genügt durchaus für den weiteren Abend, da ja kein Opernhausbesuch mehr ansteht. Kleine Quitscher an der Mechanik des Velos verschwinden mindestens für diesen Tag kurz. Weil man weniger erlebt, muss nachher weniger geschrieben werden… Es ist für einmal auch okay, wenn nicht so viel gequasselt wird in der Mannschaft. Insgesamt bleibt mehr Zeit vom Tag übrig für andere Aktivitäten… Sie sehen, eine veritable, leicht angestrengt wirkende Palette an Vorteilen…
Auch die Beantwortung der gerade heute zentralen Frage, ob das Glas halb voll oder halb leer sei, war ganz einfach zu vollziehen. Es war ob dem vielen Regen, der hohen Feuchte und dem pflotschigen Nass schlichtweg den ganzen Tag am überlaufen.
Mir selber solls recht sein, wenn morgen die Sonne wieder scheint. Und vergessen Sie den Rat von Gion nie!
P.S. Ganz zum Schluss, wir glaubten uns bereits am Ende der Tagesetappe, schenkte uns der grosse Schicksalskoordinator einen weiteren Pass, den wir natürlich gerne schnappten. Sein Name, Col de l’homme mort, schien uns dann aber doch etwas übertrieben.