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Routinen und Rituale

Gleichwohl unsere Tourtage, einerseits aufgrund der sensationell grossen Menge an Einzigartigkeiten, wie geografische Lage, Datum, Zeit, Klima und Wetter oder körperlicher Verfassung absolut singuläre und individuelle Phänomene darstellen, haben wir andererseits eine Reihe von Teilaktivitäten und Elemente in unsere Tage eingebaut, die stets genau gleich ablaufen und damit dem grossen Anteil „Freestyle“ eine Regelmässigkeit, einen Rhythmus und eine Struktur geben.

Darüber möchten wir Ihnen heute einen kleinen chronologischen Überblick geben:

Um ca. 6:00 Uhr stehen wir auf; mit – aber viel häufiger ohne – Wecker. Es folgte eine Wasseraufnahme von rund 6 dl, um den Organismus in Schwung zu bekommen. Dazu eine Kapsel Omega 3-Fettsäuren, was hier v.a. als „Radikalfänger“ dienen soll. Radikale sind Atome oder Moleküle im Körper, denen ein Elektron fehlt oder die ein Elektron zu viel haben. Aufgrund dieser unharmonischen elektrischen Ladungssituation neigen diese Teile dazu, auf „radikale“ Weise, daher ihr Name, indem sie elektrischen Ausgleich schaffen wollen, mit anderen Stoffen oft unheilbringende Verbindungen einzugehen. Man geht davon aus, dass sogar die Entstehung von Krebserkrankungen damit zusammenhängt.

Parallel dazu Einnahme eines Kalifornischen Pulvers, bei uns heisst die Marke TAKA, es ist in der Schweiz kurz vor der Zulassung und enthält Vitamine, Elektrolyte und Mineralstoffe (es lohnt sich übrigens sehr, die spannende Geschichte dieser Stoffgruppen zu studieren, wird einem dabei doch bewusst, dass die Frage, welche Substanz zu welcher Gruppe gehören soll, wissenschaftshistorisch auch von vielen Willkürlichkeiten geprägt wurde).

Jetzt steht eine Art Morgengymnastik an, bei der es darum geht, die Muskeln zu mobilisieren, den Kreislauf wachzuküssen, ein erstes Gefühl für den heutigen Körperzustand zu bekommen.

Bereitlegen aller relevanten Utensilien und Elemente; die Schönwetterversion beeinhaltet Velohose, Velooberteil, Socken, Veloschuhe, Velohandschuhe, Helm, Brille, Ladegeräte für die Schaltung, Velocomputer, Bidon mit Wasser, Bidon mit Wasser und Pulver von Aminosäuren, Kohlenhydraten und Fetten, zwei Rationen Powergel (flüssige Kohlenhydrate), Booster (mit viel Koffein), CO2-Patrone für Reifendeffekt, ev. Ohrstöpsel für Musikgenuss, in einem wasserfesten Plastiksäcklein Natel, Geld, Kreditkarte, ev. Regenjacke… Nun wissen Sie, weshalb Tourfahrer wie wir manchmal so bescheuert ausschauen mit ihren sieben Sachen hinten an den Nierentaschen, die oft unvorteilhaft über den Allerwertesten hängen.

Individuelles Frühstück nach den Regeln der Kunst. Die Kunst besteht darin, ein optimales Gleichgewicht zwischen Carboloading und leichtem Körpergefühl zu finden, d.h. grosse Mengen gebratener Speck zählt nicht dazu.

Bereitstellung der Maschinen; Kontrolle des Luftdrucks, Montage der fehlenden Teile (sh. oben: Batterien, Computer, Bidons etc.). Briefing betreffend Route zwischen Pedalisten und Busfahrer Adrien.

Vor der Abfahrt wird gegenseitig abgeklatscht. Während der Tagestour Passbild an jedem Pike. Nach der Tagesetappe noch im Bus Zuführung eines Eiweissshakes mit mindestens 30 g Protein. Die Zuführung dieser für Reparaturarbeiten zuständigen Stoffe in den relativ nährstoffarmen Magen hilft dem Körper, sich schneller zu erholen und durch die Aminosäuren die Flickarbeit an den defekten Zellen vorzunehmen. Die unmittelbare Verabreichung ist deshalb wichtig, weil damit die Ausschüttung von körpereigenen Enzymen angeregt wird, die dann wiederum die Eiweisse in Aminosäuren spalten.

Nach der Heimkehr machen wir Streching. Es geht dabei einerseits um die Dehnung der durch die lange Belastung verkürzten Muskeln und andererseits um die schnellere Regeneration, geht man doch davon aus, dass die Dehnung der einzelnen Muskelfibrillen (Myofibrillen) die darin ablaufenden Stoffwechselprozesse optimiert.

Jetzt wäre ein Nickerchen eine gute Idee, geht die Sportwissenschaft aktuell doch davon aus, dass jede Stunde zusätzlichen Sports über die Tagesration von zwei Stunden hinaus zu einem erhöhten Schlafbedarf von 20 Minuten führt. Wir sollten also optimalerweise sicher eine Stunde mehr schlafen pro Tag als im Alltag. Leider reicht es dazu oft schlicht nicht.

Verkürzt könnte man auch sagen, dass jeweils nach der Heimkehr die umgekehrten Abläufe wie vor dem Start anstehen. Also Akkus wieder vom Velo klicken und laden, Bidons reinigen etc. Teilweise wiederholen sich einzelne Schritte vom morgen, v.a. was die Supplementierung angeht.

Sobald wir die heutige Strecke in den Beinen habe, melde ich mich noch einmal…

Und das ist jetzt, nach einer Pause mit Kaffee und sehr leckerem Kastanienmehlbrot, an den Bäumen dazu sind wir erst vor wenigen Stunden vorbeigeradelt, um etwa 14:00 Uhr bereits der Fall.

Der Reichtum an unterschiedlichsten Landschaftskulissen, aber auch die diversen Klimata, einmal herbstliche 4° Grad, kurze Zeit später wieder sommerliche 24° Grad, war heute absolut einmalig.

Gestartet sind wir wiederum in einem kleinen Dorf (Lantosque) in den Bergen auf rund 500 m.ü.M., um von dort via einer Strasse von durchschnittlich 9% Steigung auf unseren ersten Pass namens Col de Turini auf 1’600 m.ü.M. zu steigen. Nach einer Fahrt in ziemlicher Abgeschiedenheit, erstaunte uns die kleine Ansiedlung aus rund einem Duzend Häusern, mehrheitlich Restaurants und Hotels umso mehr. Nachher ging es relativ flach zuerst ein paar Kilometer der Hangkante entlang, abwechslungsweise auf grob chaussierten Pisten und, zur grossen Freude von allen, immer wieder auf nigelnagelneuen kinderpopofeinen Asphaltautobahnabschnitten von 20 m Breite. Eine solch teure Infrastruktur mitten im Wald, kombiniert mit den sehr vielen Pilzsammlern, brachte mich auf den Gedanken, dass diese Champignonfraktion offenbar ziemlich gute Lobbyarbeit leistet. Später fuhren wir auf einem Kammrücken weiter, um nachher auf eine schroff abfallende kurvenreiche Wegpassage mit atemberaubenden Ausblicken zu gelangen. In Windeseile verloren wir so 700 Höhenmeter.

Von hier aus war die Szenerie noch einmal ganz anders. Ein fein, sensibel und intim geschlängeltes Strässchen führte durch eine Art kalkige Karstlandschaft, grad so, dass ich jeden Augenblick Winnetou vor meinen Augen erwartete. Er liess sich zwar knapp nich blicken, dafür staunte ich über die endlosen Schachtelhalmlandschaften, eine Pflanzenart, die bereits im Devon vor etwas 375 Mio. Jahren lebte, also aus der Zeit der Dinosaurier stammt und eine der typischen Monokotyledone ist.

In der Schlusspassage unterliefen mir zwei kleine Fahrfehler, was Rutscher mit dem Hinterrad auslöste. Einmal erwarteterweise beim Anbremsen vor einer Haarnadelkurve; zu spät dafür zu heftig in die Eisen, das zweite Mal kurz später, weil der Belag etwas kiesig war. In solchen Situationen reagiert der Körper schneller als das Hirn denken kann! Klingt vielleicht komisch, ist aber neurologisch bestens erforscht und nachgewiesen. Die wichtige Erkenntnis für mich in dieser Angelegenheit: instinktiv, vegetativ und reflexiv genau das Richtige gemacht. Und: ich bin mit so viel Reserve unterwegs, dass ein solches Vorkommnis nicht eine komplette Verhaltensumstellung evozieren müsste.

Zu genau dieser hier scheu angedeuteten Einheit, die Geist, Körper, Maschine, Unterlage und weitere Kontextfaktoren eingehen müssen, wenn man im Flow sein möchte oder man die Ausmittung der sieben Chakras sucht, würde ich gerne bei anderer Gelegenheit nachdenken und schreiben.

P.S. Das Bild zeigt: in netter Gesellschaft typisches Dinner genossen!