Selbstgespräche
Natürlich, das erwartet die geneigte Leserschaft von einer solchen im tieferen Sinn zweckfreien Homepage: Dass hier gefälligst Reiseberichte zu lesen sind, die einen, soweit das aus der warmen Stube möglich ist, Teil haben lassen an den landschaftlichen Vorzügen, Eigenheiten und Charakteristiken der jeweiligen Etappe. Und, da bin ich mir sicher, seien Sie ehrlich, den eigen verborgenen Sadismus nicht ganz verschweigen könnend, vom Schmerz der Fahrer zu lesen.
Nun, heute muss ich Sie enttäuschen. Mein Fazit fällt kurz, knapp, verstimmt und grau aus: Es war von Anfang an und noch viel mehr am Schluss grauslig, trist, kalt und das Gegenteil von Genuss. Also eher sowas wie Folter. Und da zudem selbst verordnet, im hohen Mass masochistisch, unentschuldbar sowie nur mit sich und dem inneren Schweinehund aushandelbar.
So, aus, fertig basta; mehr gibt es echt nicht zu sagen zu diesem „Tag zum Vergessen“.
Aber, gestern hat mich meine sehr grosszügige und liebe Frau am Telefon gefragt: „Was macht ihr denn den ganzen Tag so auf dem Rad? Steckt ihr ob so viel Leistung, die nonstop abzurufen ist, nicht in einem Dauerkampf mit euch selbst?“ Meine rückblickend blöde und arrogante Antwort war: „Nönö Du, wir geniessen die ständig wechselnde Umgebung, haben ausgedehnte, grossartige und hochtrabende Diskussionen auf den Anstiegen, viel Zeit für Reflexion und wunderbare Hirnstromenergien, um über das Leben und seinen tieferen Sinn nachzudenken. Ich persönlich lege mir auch schon die Texte parat, die es die nächsten Tage so zu schreiben gilt.“
Weil ich hier – einmal mehr(!) – das Maul etwas gar voll genommen habe, fühle ich mich nun aber verpflichtet, einen zweiten Anlauf zu nehmen mit meiner Teilstreckenberichterstattung.
Natürlich böten die drei Pässe, die es heute zu überqueren und passieren galt, ihre landschaftliche und tektonische Vielfalt, ihre historisch überlieferten Geschichten oder ihr sozio-kultureller Wert (ein Thema für sich), eine reiche Fülle an Detailthemen, die man behandeln könnte… Leider habe ich von all dem heute nichts mitbekommen. Deshalb erlaube ich mir eine Innensicht, die hier auch das Einzige war, was ich zu bieten habe. Vielleicht freut sich speziell meine Frau darüber, weil sie meine gestrigen Bluffsackgeschichten, ja einmal mehr, neu einordnen kann.
So versuche ich, dem Titel im Telegrammstil, haha, Télégraph wir kommen, gerecht zu werden und Sie auf eine persönliche innere Reise mitzunehmen, ohne dabei in Aussicht stellen zu können, dass sie an jeder Stelle jugendfrei ausfallen wird.
Aufgrund des suboptimalen Wetterberichtes selbstauferlegtes Frühstück in Vollmontour, um den Start bei Dämmerung, wir sind hier in den Hochalpen, der Tageslichtkoiffizient ist tief und der Sonnenaufgang, wenn es denn einen gibt, haha, spät, ausgerüstet mit Vorder- und Hinterlicht, die 500 Meter kurze Strecke hinunter zum Anstieg.
Sofort eine Wand. Eine Rampe. Eine Mauer. Topografisch und emotional. Und sogleich in einem Wahrnehmungsmodus, der nichts Gutes versprach: Mein Helmvisier offen, Sinnbild für die etymologische Bedeutung aus der Ritterzeit? Das tat man, wenn man in Frieden unterwegs war, zeigen wollte, was das eigene Gesicht emotional auszudrücken hatte. Ist das für mich heute eine Ungemach ankündigende Metapher? Werde ich heute unfreiwillig genau das tun müssen? Das Gegenteil vom Verhalten, das ich jeweils in meiner 226-Wettkampfzeit den Mitwewerbern zumuten wollte. Da trug ich immer blickdichte, oft verspiegelte Schwimm- und Sonnenbrillen.
Nun, heute ein Blickfeld wie vor einem kleinen Bildschirm sitzend. Grauer Rand, graue Strasse, graues Wetter, graue Gedanken. Zudem einer meinen beiden Freunde, sein Motto der letzten Tage war stets „langsam starten“, vom ersten Pedaltritt volle Powerkanne, als gäbe es kein Morgen.
Erste Irritation. Habe ich die beiden letzten Tage zuviel gemacht, mich unklugerweise zu oft verleiten lassen von den in hoher Dosis selbst produzierten Glückshormonen? Falsche Ernährung? BCCA, L-Leucin, Betanin, Saflor-Extrakt vergessen einzuwerfen? Alles verpeilt? War das Stück Kuchen, purer Zucker und kurzkettige Kohlenhydrate meines Pacemakers doch die bessere Wahl? Wieso hatte ich bisher die Freiheit, das Tempo zu forcieren? Heute Beine wie Blei? Schwere Atmung! Zwicken in der Hüfte! Muskulärer Grund? Oder die beiden Nieren, die die Riesenmenge Harnsäure nicht raus kriegen?
Prima; das wird ein richtiger Supertag: Hey Mann: positiv thinking! Ja, immerhin regnet es (noch) nicht, so wie es die Mehrzahl unserer Apps prognostiziert haben. Gar sehr viele Höhenmeter noch sind es bis auf den Scheitel des echt steilen Col du Télégraph. Sowieso „col“! Dass ich nicht lache. Was hat das hier mit einem Hügel zu tun? Kilometerlang, ohne Entspannung, bald überhängend! Kraftraubend! Das wird mir heute sicher noch Muskelkrämpfe bescheren! Bei diesen kalten Verhältnissen. Soll ich mich gegen diese negativen Selbstgespräche stemmen? Ändert das etwas? Muss ich den heutigen Schweinescheissstreichtag einfach hinnehmen? Führt die eine oder die andere Haltung zu einer verkürzten Wahrnehmung meines Leids? Wieso weiss jetzt grad niemand, dass ich leide? Wieso hilft mir niemand?
Ah, das Wanderpaar, welches ich grad kreuzte. Nette Leute. Applaudierten mit „Allez Galibier!“ Hat mich grad schneller treten lassen. Ich eitler Idiot! Kenne die doch gar nicht. Werde denen nie mehr begegnen in meinem Leben. Wieso wollte ich hier den coolen Maker geben? Beschleunigen, als hätte ich Reserven? Dabei ist schon deutlich das Zahnfleisch zu sehen. Ich werde sogleich büssen müssen dadurch. Und alleine auf diesen einen Pass noch über 1’000 Höhenmeter! Diese überflüssigen, ja heute ärgerlichen velofahreraffinen Angaben am Strassenrand. Noch 13 Kilometer, durchschnittliche Steigung auf dem nächsten Kilometer 9%. Wen interessiert das? Was hilft mir das? Bin ich dadurch schneller oben?
Vernünftig bleiben! Den Elefanten in Stückchen essen. Mir erscheint jeder Bissen eher wie vom Blauwal. Wo sind meine beiden Freunde? Wieso kommt diese pinkig schimmernde Gestalt näher? Dem geht es wohl voll gut. Soll ich ihm das gönnen? Mich darüber ärgern? Keine Chance; gleich ist er an mir vorbei, der gute Gion. Jajaja, wir haben hier keinen Wettkampf. Entspannt bleiben! Bei härter werdender Muskulatur nicht ganz einfach.
Obwohl ich 1’000% weiss, dass ich schon im leichtesten Gang fahre, immer und immer wieder den Ganghebel betätigt und auf ein Wunder gehofft. Werde ich jetzt noch blöd? Hoffe auf ein paranormales Phänomen. Werden so Esoteriker geboren? Es steht definitiv schlimm mit mir. Wieso ist meine Fahrweise so schwankend? Sicher Sauerstoffmangel. Aufpassen, dass ich hier nicht die Schlucht runterfalle. Das wäre nun wirklich keine Alternative.
Füsse? Wo sind die? Tiefgekühlt. Wohl abgestorben. Hände? Eisiger geht nicht. Man wird amputieren müssen. Muskelleistung? Komplett am Arsch. Ich brauche eine Pause, auch wenn es noch 600 Höhenmeter sind. 600 Höhenmeter! Gestern ein Klacks. Heute, bei nicht mal 8 Stundenkilometern schier eine Stunde zum Scheitel. Also; absteigen. Riegel essen. Rest des Aminosäurengetränkes reinschütten. Wieso läuft mir das über das Gesicht und auf, anstatt in den Bauch? Schockstarre an den Lippen. Und dann. Gottseidank. Ich habe noch einen klitzekleinen Booster. Schon lange nicht mehr verwendet. Ein Versuch ist es allemal wert.
Und weiter. Yes, diese Foodindustrie ist schon super. Wieso drücke ich nach nur zwei Minuten seit Verzehr 30% mehr Watt? Weiter geht’s! Nicht übermütig werden. Einteilen. Ja klar, kaum ein erfreulicher Gedanke, schon kommt die Strafe. Ne, kann nicht sein, bin ja nicht Katholik.
Zusammengefasst, haha, immerhin hat es bis jetzt nicht geregnet. Dafür schneit es. Fuck, das heisst ja nichts anders, als dass es mindestens 2° Grad oder kälter sein muss. Und diese dichten Nebelschwaden. Keine Orientierung mehr. Keine Chance, den Pass zu erkennen. Immerhin. Nicht mehr alleine. Aufgefahren. Meine Lippen haben grösste Schwierigkeiten, verständliche Sätze zu sprechen. Klingt mir selber fremd und wie besoffen. Ganz unähnlich ist das Gefühl hier echt nicht.
Gipfelfoto. Die eigentlich gesperrte Strecke von einem Kilometer, wir haben uns mit den Velos unter der Schranke durchgemogelt, auf der anderen Seite runter. Eine Bar. Auf den Aussentischen 8 cm Neuschnee. Ein wohl der deutschen Sprache mächtiger Witzbold hat BIER reingeschrieben. Wie blöd ist das? An der Bar ein durchgeknallter Brite in kurzen Hosen! Fragt, ob der oberste Teil der Strasse eisig sei? Nö, aber meine Stimmung!
Kurz im Bus neue trockene Klamotten. Kein Handynetzt! Keine Kommunikation mit dem Nachrücker möglich. Puh, das ist hart für ihn. Er wird fluchen. Weiter! Nur ganz schnell runter. In wärmere Luftschichten, an die Sonne! Pustekuchen. Bremsarbeit schier nicht mehr zu machen. Ich pushe mich durch laute repetitive Schreie. Wieso sehe ich nichts? Was tue ich hier? Was wäre ein vernünftiger Entscheid?
Nächstes Höhenplateau; Häuser. Wieder alle zusammen. Kalt wirkende Mienen. Seltsam, haha. Velos verladen. Keine Chance mehr etwas zu sagen. Mundgefröhrnis? Der Körper zittert. Immerhin im Bus.
Und die Moral der Geschichte? Ich kenne sie nicht! Leider! Vielleicht braucht es solche Erlebnisse, um dann auch die ganz schönen-geschmeidigen-einfachen-lockeren Etappen richtig geniessen und einordnen zu können. Ja und auch noch: Ein paar harte Stunden ein Gefühl davon bekommen, was Schizophrenie sein könnte, hatte ich doch einen inneren Dialog mit mindesten zwei (oder drei) durchgeknallten Personen.
Und. Für morgen ist der Wetterbericht besser!