Vive la difference!
Krasser könnte man sich den heutigen Tag in seiner Andersartigkeit zu gestern nicht im Traum ausmalen.
Aber der Reihe nach. Gestern im Restaurant einen sehr fantasievoll interpretierten Gaspacho bekommen. Intensivstes Knallgrün, eine Textur als käme sie aus dem Pacojet, im positiven Sinn sehr kräuterlastig, dominanter Basilikum, Pfefferminznoten, sehr mineralisch und wohl die pure Vitamin-Mineralstoffbombe, als Einlage schneeweise Ziegenkäsekrümmel und drumherum sensationell frischen Blattsalat mit Cherrytomaten und leckerer Salatsauce. Mag durchaus sein, dass meine euphorische Beschreibung aufgrund der vielen Riegel, Gels und Elektrolytmixturen, kombiniert mit dem hochverbrennungstechnisch bedingt andauernden Heisshunger hier etwas gar positiv ausfiel. Es war aber einfach ein grossartiges lukullisch-gastronomisches Erlebnis! Und der nachfolgende Cesarsalat einer der leckersten und originellsten, die ich je gegessen habe.
Nach kurzer aber intensiver Nacht im Boutiquehotel etwas nach acht Uhr schon wieder im Sattel. Kurzes leichtes Einrollen und schon war der Einstieg ins Tal gefunden.
Könnte man unseren gestrigen Schlusspass in der Kurzfassung „Heidiland“ nennen, wurde heute sofort klar, dass wir es eher mit „Räuber Hotzenplotz“ zu tun bekommen werden.
Von Beginn weg Engnis, Schroffheit und Unmittelbarkeit, dass einem angst und bange hätte werden können. Dominierten gestern weite Horizonte, luftiger Überblick und überragende Grosszügigkeit, waren das heute sehr intime, überschaubare Raumkammerungen, ein fein ziselierte Mikrotopografie und eine Umgebung so nah, als wäre sie zum Anfassen.
Auch was die von Menschenhand nötigen Eingriffe anging, höchste Dichte an sorgfältig gemachten Bauwerken. Praktisch ununterbrochenen Stützmauern, oft zweiseitig, Tunnels, Geländer, Galerien, in den Stein gebohrte Stahlnetze, architravartige Lawinenbverbauungen, Brücken. All das machte im Vorfeld massive Eingriffe nötig; Aufschüttungen, Abtragungen, Sprengungen.
Die ersten rund 8 Kilometer ging es, strikte dem Bachlauf folgend, teilweise in steilen Schluchten, diesem Gewässer entlang, mal auf der rechten, dann wieder auf der linken Seite. Dafür, dass das hier ein Pass sein sollte, war es mit 3-5% ziemlich flach. Teilweise ging es leicht abwärts, was zu befahren übrigens ein besonderer Spass darstellte. Die Szenografie, die Dramaturgie, die Theatralik, die sehr spannungsvolle und abwechslungsreiche Raumabfolge, waren ein schlicht unübertreffliches Schauspiel.
Wie hart hier die Auseinandersetzung zwischen Natur und Kultur, Pass und Mensch aber ist, zeigten auch immer wieder finger- bis faustgrosse Steinsbrocken, die auf der Strasse lagen, als wären sie erst gerade herunterruntergefallen. Glückspilz, wer nicht getroffen wird!
Kurz schmunzeln musste ich, als ich unvermittelt und -überlegt Gion sagte „Ich nimmä ä Foti.“ Offenbar nach nur wenigen Tagen des Gebrauchs meines jämmerlichen Französisch’s hat mein Sprachzentrum intuitiv eine Rückübersetzung des oft gehörten „… on prend une photo…“ gemacht.
Kurze Zeit später eine prototypische Szene aus dem Alltag eines Velofahrers: Mindestens innerlich vor mich her trillernd, zumindest von profund guter Laune, knallte ein Mitvierziger an mir vor bei, sein Kreuz wie ein Preussischer Soldat durchgestreckt, Position auf dem Fahrrad an den Film Easy Rider erinnernd, deutlich erkennbare Nasenatmung zur Schau stellend, mit einem sehr übertrieben salopp hingesäuselten „Bon jouuuur“ an meine Adresse gerichtet. Die vordergründig nette Begrüssung meinte im Inneren natürlich etwas ganz anderes. Nämlich, was bist Du für eine schlappe Nummer auf Deinem Carbonhightechofen? Entlarvt habe ich den Mann aus zwei Gründen. Erstens. Nach rund 100 Metern Entfernung auf mich, blieb der Abstand konstant. Zweitens. In meinem noch viel unreiferen chauvinistischen Vorleben machte ich den Trick auch gerne mit anderen Menschen. Interessant: später meinte meine Clique, das sei ein E-Bikefahrer gewesen, der bei ihnen die genau gleiche Attitüte zur Schau stellte. Na dann wär’s aber richtig peinlich für ihn ;-).
Nach gut zehn Kilometern der engen Flussschlucht entlang, schier wie ein Wunder, plötzlich eine Horizontaufweitung, grosszügige Blickachsen und wie aus dem Nichts ein Hotel und eine Art Hochgebirgsebene; hier hat sich das Tal auf vielfältig komplexe Weise verzweigt, haben sich raffiniert Wasserschneisen und -scheiden gebildet. Kurze Zeit später, die Strasse so schmal als wäre sie ein Saumpfad, wieder mitten im Wald. Was sind das für berauschende Sequenzen, Raumabfolgen, Episoden, Szenografien!
Heute Heugümper auf der Strasse von einer ganz anderen Art als gestern. Doppelt so gross, leuchtgrüne Giraffenmuster bis purer Smaragd als Körpergrpräge, aber gleich gestimmt wie die Kollegen von gestern. Springen partout erst in allerletzter Sekunde davon, als würde sie ein Mix aus Wagemut und Tollkühnheit treiben. Einige verkrustete Zeugnisse davon, dass das gefährliche Spiel nicht jeder von ihnen gewinnt. Wohl bei bergabwärts fahrenden Rädern die Zeitspanne zwischen „Ohhh“ und „Plutsch“ schlicht zu knapp…
Kurz vor dem Scheitel, der Anblick eines schier perfekt geformten hyperbolischen Paraboloids! Was, Sie wissen nicht was das ist? Ich auch nicht ;-). Im Ernst. Dort wo sich zwei Berge und zwei Täler treffen, entsteht eine Sattelfäche. Sehr viele Pässe weisen diese plastischen Eigenschaften auf. Der menschliche Körper übrigens auch.
Um 11:00 Uhr auf dem Pass die obligaten Routinen und einen kurzen Schwatz mit einer etwa gleichaltrigen (jaja, auch gleichfaltigen; das war jetzt echt mein unabsichtlich böser Verschreiber) Lady. Sie startete um 6 Uhr bei Dunkelheit und plagte sich alleine auf einem sehr stabil, schwer und alt wirkenden Fahrrad, plus gefühlt dem halben Haushalt, die Strecke hoch. Heute würde noch ein weiterer solcher Brocken anstehen, meinte sie entspannt und beschäftigte sich weiter mit ihrem Smartphone. Verglichen mit uns: es gibt schon richtig durchgeknallte Menschen!
Auf der anderen Seite dann – schnellschnell – wieder runter. Slalom durch Ansammlungen weisser Kühe, Schafherden und dem, was bei beiden Arten oft hinten raus kommt. Auch anspruchsvoll. Toll an so einer 1’000 m-Abfahrt. Beim Halt unten angekommen fühlt man sich 10 Jahre jünger! Echt war. Sie glauben das nicht? Selber ausprobieren!
Jetzt ins Hotel la vague, wo uns viele liebe Menschen und – hurra – einen Massage erwarten.
Übrigens: Unser Hans im Team war heute wohl ein glücklicher, zischte er doch, ich saftlos nähmaschinenartige Frequenzen drehend, mehrfach an mir vorbei wie ein nicht zu bremsender Dampfhammer. Kein Wunder meinte er nachher „Das war heute die (bisher) schönste Etappe!“