Skip to main content

Aus dem Erkenntnislabor der Flaneure

Ein heute nicht so perfekt passender, etwas banalerer Titel – der „Rundkurs“ aus früheren Tagen, der rein numerologisch auch „0“ hätte heissen können quasi als Vorbild dienend – wäre „8“ gewesen. Sie verstehen es natürlich sofort; wir sind heute eine wirklich sexy Acht gefahren, was auf dem Bild wohl ohne Weiteres zu erkennen ist. Vorweg; einen speziellen Pulsanstieg löste bei mir als gebürtigem Italiener der kurze Abstecher nach Italien aus, auch wenn hier die Qualität der Strassenbeläge sprunghaft abnahm.

Ausgangspunkt heute war eine Ortschaft namens Sospel, 350 m.ü.M. gelegen, knapp 4’000 Einwohner*innen und in vielerlei Hinsicht sehr typisch, ja prototypisch für viele ähnliche Orte, die wir bisher durchfahren durften und noch dürfen. Nur sehr oberflächlich und knapp möchte ich die paar relevanten Charakterzügr beschreiben, so, dass Sie sich vielleicht ein Bild davon machen können. Über diesen und ähnliche Orte.

Die bauliche Hauptstruktur der mittelalterlich geprägten Altstadt folgte topografisch völlig logisch und linear dem Fluss Bévéra. Dies erzeugte hier, wie aber z.B. auch in Basel am Rhein, eine besondere Qualität; es werden zwei Stadtkulissen etabliert, die auf vielerlei Weise die Kommunikation, die Orientierung oder die Identität des Ortes prägen.

Die beiden Flussseiten von Sospel wurden von Strassenzügen begleitet, wobei eine Reihe von Brücken, die älteste stammt aus dem 11. Jahrhundert und wurde nach dem Krieg bis 1954 rekonstruiert, einen Turm aufweist, der früher als Zollhaus diente. Die gut sichtbare Kathedrale Saint-Michel, ein beinahe lustiger, dabei aber ganz entspannter Stilmix aus französischer Klassik sowie italienischem Barock. Die verschiedenen aneinandergereihten Häuser aus unterschiedlichen Epochen, lediglich leicht changierende Trauf- und Firsthöhen, einheitliche Lochungen der Fassaden, gleichzeitig fröhliche und bunte Farbgebungen, ein kleiner Katalog von Materialien und Baustoffen, bewusst thematisierte tektonische Fügungen, ein insgesamt unverkrampftes Nebeneinander, lineare Baumreihen und ein paar wenige Aufweitungen zu Platzsituationen: schon haben Sie ein schönes, anmutiges und gut funktionierendes Dorf. Bei einer Stadt verhält es sich übrigens fast identisch. Und in Echt ist es natürlich schon noch ein bisschen komplexer.

Kaum aus Sospel draussen, bot uns die Startszenerie heute ein Stimmungsbild wie aus dem Film King Kong. Steile Berglandschaften, Wasserfälle, alle Nuancen grüner Farben und v.a. wie weisse Tischdecken über die Bergspitzen hängende Nebelschwaden. Kühl, geheimnisvoll, feucht und sich in ihrer Gestalt fortzu verändernd. Es hätte mich wirklich nicht überrascht, wäre irgendwo der grosse nette Affe aufgetaucht.

Sowieso war heute die dominante Oberflächenstruktur des Territoriums, welches wir durchstreifen durften, Wald. Wald in einer Dimension, einem Reichtum, einer Vielfalt, einer Vitalität, dass man schon leicht ins Staunen, Bewundern und Reflektieren geriet. Auch sehr augenfällig heute, wie viele Infrastrukturrudimente es zu entdecken gab. Gleichzeitig hochgradig logisch, effizient und wunderschön in die Topografie eingefügte Bahnviaduktreste, Bunkerensembles von im mindestens zweifachen Wortsinn brutalster Betonschönheit, alte Baustrukturen früherer Zollübergänge, verrostete Stahlgerippe, die einmal Stromkabel trugen oder auch sehr viele schwungvoll gelegte, sich wie lange Schlangen über den Hang windende Serpentinen und ihre dazu nötigen Stützmauern; ein landschaftskulturelles Spektakel besonderer ästhetisch-historischer Güteklasse! Wenn man neben den reinen Sinneswahrnehmungen, die schon eine Sensation darstellten, noch über die Entstehungsgeschichten, die territorialen Bedeutungen, die damals zur Verfügung stehenden bescheidenen Technologien, die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen und die vielen überlieferten Erzählungen dazu nachdenkt, kriegt man ein wunderbares Gefühl dafür, was menschliches Baukulturgut alles sein kann.

Zum Schluss, auf der Rückkehr im Auto, gab es leckere Baguette-Sandwiches mit Schinken, Käse und Tomaten. Die schmecken nach etwas Fahrradfahren einfach 10 x besser!

P.S. Meine offene Frage betreffend Col de la Madone von einem lieben Freund, er fuhr gegen den zwischenzeitlich etwas angeschlagenen Herrn als Eliteamateur Rennen und lag dabei stets vorne, aufgelöst bekommen:

Danke David!