Skip to main content

Höhenluft

Der heutige Tag war ein ausserordentlich spannender, abwechslungsreicher und vielseitiger. Etwas vor neun Uhr sassen wir auf unseren Maschinen. Und ja, auch wenn ihr Hauptmotor aus unseren Beinen besteht, stimmt der Ausdruck nicht nur im physikalischen Sinn sehr gut. Ein Velo dieser Klasse ist sogar eine Supermaschine, setzt sie die 2-300 Watt, die wir über den Tag drücken, doch ziemlich optimal in Geschwindigkeit um, indem eine Reihe von Hebeln, Technologien und Innovationen optimale Verhältnisse schafft. Am Tretapparat selber gibt es kleine Teilmaschinen, so z.B. die elektronischen Schaltungen, die von winzigen batteriebetrieben Motoren gesteuert werden.

Und, erzählen Sie’s ja nicht weiter: in meinem massiven Unterrohr steckt natürlich ein Elektromotor mit einer 3 kg schweren Batterie, man gönnt sich ja sonst nichts!

Zurück zum eigentlichen Tagesthema. Bei also knapp über Null Grad ging es von Val d’Isère aus, das zu dieser Jahreszeit einen eigentümlichen, auch etwas melancholischen Alpenchic ausstrahlt, unmittelbar in den heftigen Anstieg zum Col de l’Iseran. Die rund 1’000 Höhenmeter bis zum Pass sind in vielerlei Hinsicht ein Lehrstück, erlebt man doch 1:1 einen sehr spannenden Wechsel von Flora, Fauna, Anmutung, Blickhorizont und Atmosphäre. Letzteres in meteorologischem als auch psychologischem Sinn.

Die zu dieser Jahreszeit schon unterbevölkerte Stimmung des alpinen Ortes ging über in eine Werkhofsituation mit Infrastrukturanlagen, wo einzelne Lastwagen Baumaterial deponierten und muskuläre Geräte Material schürften.

Nach ein paar weiteren Kehren durchbrachen wir die Waldgrenze. Bergbächlein, bunte Alpenkräuter, dazu passende wechselnde Duftnoten und, erstaunlicherweise, Kuhherden waren die Begleiter bis rund 2’300 Meter über Meer. Heute gab es an dieser Grenze plötzlich Schnee auf der Alplandschaft; gestern frisch gefallen. Die Temperatur betrug hier -4° Grad. Das zunehmend graue Gesteinsmaterial, Geröll- und Kieshalden, kombiniert mit dem feinen Schnee- und Firstfilm erzeugte eine ziemlich homogne graue Landschaft, die spontan an Sciencefictiofilme erinnerte. Auf dieser Strecke heute dazugelernt: es gibt ziemlich viele Holländische BMW-Clubs, die diese schmale, provisorisch wirkende und nicht ganz nach Schweizer Standart unterhaltene Strasse rauf- und runterbrettern.

Auf dem Pass servierte uns der charmante Adrien selber gemachte warme Gemüsesuppe; was für eine Wohltat für die klammen Finger und den dankbaren Magen!

Wer nun denkt, die Hauptsache sei geleistet, irrt. Die wiederum rund 1’000 Meter, die es auf der schmalen, rumpligen und gewellten Strasse hinunterging, hatten es mindestens gleichermassen in sich, ist es doch für die unterkühlten Hände, die verspannten Schultern, die rote Nase und die etwas harten Beinmuskeln, erneut eine besondere Leistung, dafür zu sorgen, dass Mensch und Maschine nicht mit massiv übersetzter Geschwindigkeit den steilen Hang herunter, oder darüber hinaus, donnerte. Ohne ein paar Pausen, in denen Hände ausgeschüttelt, Schultern gelockert und Zumut ausdrückende Sprüche geklopft wurden, wäre es schlicht nicht gegangen.

Auf der anderen Passseite unten angekommen landete man dann auf einer Hochebene, die ein Mix von Engadin und Tessiner Raumsituationen sein könnte. Die Talsohle, der wir von hier an gefolgt sind, etablierte sich in kaskadenförmigen Plateaus, die sich wellenförmig hintereinanderreihten. Für mich als Fahrer ein echter Gegenwert zum Pass, kamen hier doch Triathlonerinnerungen hoch, ausgelöst von vielen Fahrtenspiel-Trainingseinheiten in solchem Gelände. Der Name rührt daher, dass in einer spielerischen sowie abwechslungsreichen Art Tempo, Trittfrequenz, Krafteinsatz und Position auf dem Velo verändert werden. Berauschend an der Sache war auch, dass mit ziemlich hohem Speed gefahren werden konnte. Der heute Abend konsultierte Cumputer hat an einer Stelle nach Kilometer 75 für die Durchschnittsgeschwindigkeit eine Kilometerserie von 42,5 – 41,8 – 43,3 – 53,5 – 61, 5 und 39,3 ausgespuckt; ganz schön rassig!

Zurück zum Titelbegriff; Höhenluft. Mindestens drei Aspekte gilt es dazu noch kurz zu beleuchten:

a) Mit der zunehmenden Höhe nimmt bekanntlich der Sauerstoffgehalt ab, was hauptsächlich mit dem tieferen Luftdruck zusammenhängt. Verglichen mit der Meereshöhe, gibt es auf 3’000 Meter bereits 40% weniger Sauerstoff in der Luft. Anstelle von rund 21% also noch knapp 13%. Da die Muskeln bei einer solchen Fahrradbelastung am Berg v.a. Glykogen (oder aber Fettsäuren) oxidieren, was vereinfacht und chemisch gesagt einer Verbrennung von Kohlestoff und Sauerstoff zu Muskelarbeit, CO2 und Wasserdampf führt, wird klar, dass es gegen die Passscheide hin nicht nur strenger wird, weil schon ein langer Weg hinter einem liegt oder es steil ist, sondern auch, weil quasi die Zutaten für Leistung geschmälert werden. Also beim zukünftigen Selbstversuch nicht deprimiert sein, wenn die Atmung etwas schwerer wird und das Gefährt etwas langsamer; das liegt in der Sache der Natur.

b) Auch interessant ist die sogenannte thermische Höhenstufe, die in Europa meistens bei 0,7° Grad pro 100 Höhenmeter liegt. Von 1’800 Meter über Meer um 1’000 Meter zu steigen, so wie wir das heute morgen gemacht haben, bedeutete eine um 10 x 0,7° Grad = 7° Grad tiefere Lufttemperatur. Neben diesen streng wissenschaftlichen Aspekten, gibt es aber einen noch viel bedeutsameren:

c) Die Lust, die Freude, der Erlebniswert, die Erinnerungsfähigkeit und die Intensität (okay; auch der Schmerz. Aber das ist ja gerade der Clou), die man wie gratis dazu geschenkt bekommt, wenn man eine solche Strecke durch eigene Kraft bewältigt, ist wohl um ein Vielfaches höher, als wenn man das motorisiert tut. Die vier deutschen Softeis-Porsches, es waren Boxter-Modelle, die, als würden sie extra gern röhren, an uns vorbeizischten, taten uns schon beinahe etwas leid.

Für das Gruppenpowerstreching auf den Gymnastikmatten vor dem Hotel liegend, unterstützt durch die wärmenden spätsommerlichen Sonnenfinger, die uns neckisch auf der Haut kitzelten, überkam uns eine weitere vergnügliche Erkenntnis: Auch heute war die Etappe rund 20 km länger als geplant, ein Pass mehr stand auf dem Konto. Diese entspannt hingenommene Flexibilität wünschte man sich auch für den hoffentlich noch ganz lange nicht anstehenden Berufsalltag.

Morgen dürfen wir gleich drei Klassiker in Reihe geniessen; die Vorfreude ist riesig…