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Schlafstörungen & Cie. AG

Nun denn, ich hoffe, es geht Ihnen gut und Sie hatten eine erholsame Nacht.

Genau das, angereichert mit vielen anderen guten Wünschen, haben uns viele Journalleser*innen die letzten Tage immer wieder per digitaler Medien (was an Social Media sozial sein soll, hat mir nie eingeleuchtet) mit auf den Weg gegeben. Ihnen allen vielen Dank dafür; Ihre durchs Band schönen Wortmeldungen wirken etwa so gut, wie eine starke Multivitaminpille oder ein Powergel.

Andere Kommentare von vielen lieben Personen, die uns auf dem Blog verfolgen, beschäftigten sich mit der Frage:…

… ob das alles nicht ein viel zu grosser Stress sei…

… ob wir es auch einmal nur geniessen könnten oder…

… ob wir wirklich in genügendem Masse auf unsere Gesundheit achten würden.

Nun, lassen Sie uns dazu gleich ein paar Antwortversuche geben:

Klar bedeutet unser Trip für jeden von uns vier Boys eine Belastung ungewohnter Natur und Intensität. Wir kommen aber auch nicht aus einem Nichtsportlerhintergrund heraus, sondern betätigen uns alle schon seit Jahrzehnten mit „Körperarbeit“. Zudem haben wir uns die letzten Monate in verschiedenen Teildisziplinen spezifisch, seriös und aufwändig vorbereitet. Und nicht zuletzt tun wir ausser ein paar Stunden radeln, jeden Tag fast gar nichts anderes, was uns speziell Energie abverlangte.

Der vielleicht wichtigste Aspekt aber ist für mich ein anderer: da wir jeden Tag Stunden auf dem Sattel sitzen, ganz viel Zeit in einem energetischen Körper- und Geisteszustand verbringen, in dem sich Output und Input in harmonischen Gleichgewicht befinden, sind das Tage, in denen wir sehr bei uns selber sind, im Augenblick leben und den momentanen Empfindungen, Eindrücken oder Emotionen viel Raum geben können. Es bedeutet auch, wir sind stundenlang pro Tag draussen an der frischen Luft, Teil des Umfeldes, durch das wir schweben, den sekündlich wechselnden Bedingungen, Wetter, Wind, Sauerstoffeghalt etc. ausgesetzt, in einem Achtsamkeitsmodus, wie wir ihn sonst in unserem Alltag nicht kennen.

Noch einmal ein anderer Beschreibungsversuch: In vielerlei Hinsicht sind unsere Tage das Gegenteil von Stress, z.B. wissen wir nie, welcher Wochentag gerade ist. Und es ist uns auch egal. Niemand interessiert das, weil es von keiner tieferen Bedeutung ist für uns und unser Projekt. Haben Sie eine Idee davon, wie schön sich nur schon dieser Aspekt anfühlt? Ich kenne diesen Zustand höchstens noch aus den Familiensommerferien, wo er aber nur jeweils ein paar Tage andauert.

Schon das eben Gesagte macht wohl deutlich, wie hoch das Geniessen, auch im Sinne von „das Leben zulassen“ angesiedelt ist. Wir geniessen es quasi mit jeder Faser unseres Körpers, mit allen uns zur Verfügung stehenden Sinnen und Kräften, mit wirklich viel somatischer Präsenz im Jetzt, mit ordentlich Raum für spontan auftauchende Bedürfnisse, mit aller Zeit der Welt.

Alles das erzeugt diesen hohen Grad an Resonanz, das in Gleichschwingung geraten mit unserer Umgebung, das wir als gesteigert und sehr intensiv empfinden. Das ist vielleicht auch der Grund, weshalb uns der Begriff des Flanierens im klassischen Wortsinn beschäftigt, gefällt und passend erscheint. Wir streifen sozusagen durch einen Teil von Europa und empfinden dabei, mehr oder weniger ununterbrochen, Freude, Wohlbehagen, Wonne, bei dem was auf uns einwirkt.

Bei der Einkreisung und Herausschälung dieser Gedanken, fällt mit reflektiv auf, wie stark es im Kern unserer Reisaktivitäten, im Grunde genommen auch in den Beiträgen dieses Journals, um einen zentralen Themenkomplex geht; nämlich um die Frage nach dem Sinn des Lebens, den wir irgendwie und hoffentlich alle suchen, uns ihm annähern und vielleicht sogar finden. Oder mindestens Teile davon.

Lassen Sie mich trotzdem auch noch auf die obige (Leser-)Frage der Gesundheit kommen. Einmal abgesehen davon, dass auch die heutige Wissenschaft immer noch etwas hadert mit einer exakten Definition, was das überhaupt sein soll, die WHO z.B. sagt aktuell: Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen, ist es evident, dass unsere Reise angereichert ist mit Tätigkeiten und Aktivitäten, die stark mit dem Begriff Gesundheit zusammenhängen sowie konnotiert sind. Körper, Geist und das Soziale sind die drei Hauptbausteine, mit denen wir jeden Tag neu gestalten.

Was ich dabei aber auch noch unbedingt los werden möchte: Alle unsere Tagesberichte könnten leicht den Eindruck erwecken, das sei hier sehr souveränes Honigzuckerschlecken, sei souverän und minutiös geplant, unter totaler Kontrolle, genau so abgelaufen, wie vorausgesehen, locker-flockiger Schwebezustand. Alles sei so gut antizipiert worden von uns, wie Roger Federer die Aufschläge des Gegners liesst.

Dem ist aber nicht so, das ist so nicht richtig. Wir erleben beispielsweise täglich Unvorhergesehenes, Wegverirrungen, Hungeräste, Verstimmungen, Schmerzen an irgend einer Körperstelle, von der wir nicht wussten, dass sie existiert, Streckenumplanungen, Muskelverhärtungen, Kettenquitscher, Hotelstornierungen, Plattfüsse oder eben auch Schlafstörungen.

Dabei nur kurz den letzten Punkt herausgepickt: Zum einen ist unsere Gesamtschlafdauer deutlich unter dem Masse, das sie haben sollte, zum anderen ist unser Schlaf häufig ziemlich unruhig und unterbrochen. Wahrscheinlich könnte man die Gründe dafür relativ leicht mittels Hormonmessungen im Blut nachweisen, hat sich doch aufgrund des intensiven täglichen Sports ziemlich viel verschobenen in unserem Metabolismus, verglichen mit Otto-Normal-Menschen.

Ist unsere partielle Insomnie nun das Haar in der Suppe unserer Geschichte? Ich weiss es nicht, stelle aber fest, dass wir mit diesem Manko gut leben können. Schon bald sind wir wieder zuhause bei unsern Lieben, in vertrauter Umgebung und liegen auf dem gewohnten Bett. Und da werden wir wieder ganz andere Zeiten durchleben und vielleicht sogar die eine oder andere Stunde nachschlafen.

Was wir Ihnen, in wenigen Worten ausgedrückt, einfach mitteilen wollten: unser Stressfaktor im klassischen Wortsinn und Verständnis ist tief, wir geniessen es jede Sekunde sehr, wir achten in hohem Masse auf unsere Gesundheit und es ist nicht alles perfekt…

Und übrigens: Ausgerechnet die letzte Nacht habe ich wieder einmal wunderbar dormiert.

Aber nun zum Kern, unserer heutigen Etappe:

Heute ging es, in ähnlicher Weise wie gestern, aber mit viel weniger Wald, von Ganges nach Lodève; wir nähern uns langsam unserer letzten besonders strengen Woche in den Pyrenäen, einer Bergkette, welche die Iberische Halbinsel vom Rest Europas trennt. Sie erstreckt sich über mehr als 430 km und ihre Gipfel erreichen eine Höhe von über 3’400 m.ü.M. Einige Wander- und Velowege ziehen sich über die gesamte Länge, in den Nationalparks können auch kürzere Touren gemacht werden und Andorra liegt als winziger, souveräner Staat im Herzen der Pyrenäen. Auf beiden Seiten des Gebirgsmassivs befinden sich Duzende von Skigebieten. Wir hoffen sehr, um weiteren Schnee herum zu kommen…

Los gegangen ist es heute zuerst im Auto, um bei Lodève von vier auf zwei Räder umzusteigen. Nach rund 20 Tagen, die wir mittlerweile unterwegs sind, die Zeit rast, hatten wir das Gefühl, die Spielarten an Terrains, das Vokabular an Topografien, die Klaviaturen der räumlichen Stimmungen und das 1 x 1 der szenografischen Atmosphären langsam zu kennen. Weit gefehlt!

Der heutige Tag hat uns beschenkt mit Temperaturen bis 27° Grad, flauschig aussehenden weissen Cumuli und einer Art theatralischem Storyboard, wie wenn Sie durch ein schnell drehendes Kinderkaleidoskop kucken. Die Grundzutaten der Bildkomposition sind zwar bekannt (und eigentlich auch relative banal (z.B. farbige, geometrische Folienschnipsel), aber die rasche Neukombination erzeugt beinahe rauschartige Kombinationen, bei denen Sie immer wieder aufs Neue staunen können. Und so waren wir heute etwas kindlich, zugegeben manchmal auch kindisch, unterwegs; überall wieder Stopps mit „Oh’s“, “ Ah’s“ und „Uh’s“…

Angefangen hat es mit einer mächtigen uralten Platanenallee, die dorftypologisch bedingt vom zentralen Hauptplatz radial aus dem Ort herausführte. Wir durften im Laufe des Tages noch weitere Male diese tollen Pfortenideen, diese geschichtlich geprägten Denkanstösse über Eingangssituationen auf urbanem Massstab bestaunen und geniessen. Auch gesehen haben wir Canyon’s, die den Präfix Grand wirklich verdienen. Nicht ganz so gewaltig wie in den USA, aber doch von einer Dimension, dass es überall Absprungrampen für Gleitschirmler, Deltasegler oder Basejumper gab.

Nach einer Weile fuhren wir mitten in weitläufige Windradanlagen hinein, die jeweils etwa zu zehnt Cluster bildeten und sich über viele Kilometer den Bergkanten entlang gruppierten. Hier fuhren wir auf nur drei Meter breiten, meist perfekt präparierten, Asphaltstrassen. Mir wurde bewusst: wenn ich mir als Junge eine Gokartbahn hätte wünschen dürfen, genau so hätte sie gebaut werden müssen. Das Fahren auf diesen Wegen löste ein seltsames, vorerst beklemmendes und schwer beschreibbares Gefühl aus und ich fragte mich, woran das hätte liegen können. Meine nicht abschliessende Antwort: Weil diese Wegstrukturen fast wie autistische Fremdkörper in die Umgebung eingefügt wurden, vielleicht nur zum Zwecke des Baus und des Unterhalts der Energiegewinnungsanlagen – sahen wir doch ein paar Mal entsprechende kleine Lieferwagen herumkurven – und sie zudem kaum eine Verbindung eingehen mit dem direkt angrenzenden Gebiet des jeweiligen Abschnitts, also nich von A nach B und weiter zu C führen, fühlt sich das Befahren fast ein bisschen wie „falsch“ an. Hier hatten wir dann auch einen sympathischen Schwatz mit zwei Motorradjournalisten, die Material für einen Reisebericht der Gegend zu recherchieren hatten.

Später drangen wir in Gebiete ein, die aufgrund des hohen Eisenoxidgehaltes im Boden diese schön glänzende rotbraune Farbe trugen, um dann für etwa 7 km auf eine weitere ganz spezielle Route einzubiegen. Das Gelände fiel um ein paar Prozente leicht ab, die harmonischen Kurven dem Flusslauf entlang hatten perfekte Radien und v.a. Kreissegmentübergänge, Verkehr gab es wenig, der Wind war weg und plötzlich steckten wir in diesem unglaublichen Flow einer Zeitfahrertruppe. Rad an Rad, wie am Schnürchen, ein starker Korpsgeist spürbar, obwohl wir alle keine erwähnenswerten Militärkarrieren hinter uns haben, ohne Worte hohe Übereinstimmung, allerhöchstes gegenseitiges Vertrauen, fokussierte Konzentration, 50 km/h+, ein kontrollierter Highspeedrausch, an der Grenze der Physik, keine Pedalumdrehung ohne Power, spektakuläre Kurvenlagen, Teamgeist, Sensation, Tiefflug. Schade, dachte ich, hat man die „100 km Strasse“ für vier Personen aus dem Olympischen Programm genommen; ich habe das immer mit viel Faszination am TV verfolgt.

Auf den letzten 100 m die linke Linse aus dem Auge verloren. Im Gegensatz zu den bisher drei Mal der letzten Wochen, in denen ich sie stets komplett abschreiben musste, Glück gehabt, dass sie auf der Innenseite des Helmvisiers kleben blieb. Angehalten, zu befeuchten versucht, Windstoss, im Kies lag sie. Merde! Ich fand sie wieder, konnte sie reinigen und wieder einsetzen. Froh darüber, denn sie ist meine letzte aus dem Reserveköfferchen…

Am Abend auf einem schön gemachten, gut sozialräumlich zonierten Platz in der reinen Altherrencombo, Adrien traf eine seiner vielen Duzend Copines, die er in ganz Frankreich verteilt zu haben scheint, wie immer einen angeregtes Nachtessen genossen. Beim Gang auf die Toilette geschmunzelt, da ein Pissoir, wohl defekt, ganz entspannt mit einem schwarzen Kerichtsack eingepackt wurde. Das erinnerte mich an die Hälfte der Windräder, die heute nicht drehten. Sind die beiden Beobachtungen auf verschiedenen gesellschaftlichen Zuständigkeitsstufen nun Ausdruck der den Franzosen so eigenen Inkongruenz zwischen Technikaffinität und Laissez Faire in Unterhaltsfragen? Beschreibt das zweimal die Seele Frankreichs? Wir Flaneure sollten es eigentlich langsam wissen!